Die Pellinor Saga Bd. 2 - Das Rätsel
mein Herz zurücklassen ?Das würde mich schlimmer verstümmeln als der Verlust meiner Finger. Dann würde es selbst in meinem Herzen nie mehr Lieder geben.
Maerad wusste nicht, wie lange sie so dasaß, umfangen von Unglück, und alles vergaß, den Wolf, den Umstand, dass sie vor Arkans Schwelle hockte, die Gefahr, in der sie schwebte. Sie fühlte sich, als würde sie mitten entzweigerissen. Schließlich rief der Wolf sie zurück in die Gegenwart. Werde zur Wölfin, wiederholte er. Oder du wirst für immer eine zahme Hündin sein. Erschrocken schaute Maerad auf und erkannte, dass der Himmel bereits heller wurde. Sie war halb erfroren. Eis verkrustete ihr Haar, ihre Beine fühlten sich taub an. Der Wolf erhob sich wieder und schien sie mit etwas zu mustern, das wie Verachtung anmutete.
Maerad schloss die Augen.
Ich werde gehen, dachte. Dabei fühlte sie sich, als wäre sie hinaus in einen Abgrund getreten. Sie konnte nicht mehr zurück.
Als die Entscheidung in ihr Unwiderruflichkeit erlangte, wurde ihr klar, dass sie verstand, was der Wolf meinte. Natürlich konnte sie sich in ein Tier verwandeln. Allerdings gehörte dies nicht zur Bardenmagie, die solche Verwandlungen nur in Form von Scheinbildern bewerkstelligte; es war Teil des Wissens der Elidhu, und damit konnte sie die Macht des Winterkönigs bezwingen.
Langsam, mit kalten und steifen Gliedern stand sie auf und schulterte bewusst ihr Bündel, zumal es sich mit ihr verwandeln musste. Sie sah dem Wolf in die Augen; unverwandt starrte er zurück. Ohne Eile, als hätte sie es schon tausende Male gemacht, richtete sie alle Aufmerksamkeit tief in ihr Innerstes, sank durch die Schichten -Sklavin, Bardin, Pilani, Maerad, Elednor, Frau - tief und tiefer, bis sie zu einem Ort gelangte, an dem alle Häutungen abfielen, wo sie überhaupt keinen Namen besaß und ihr Geist leer und klar wie Wasser war. Dann suchte sie den Ruhepunkt der Verwandlung, die Angel, um die sich alles drehte; sie fand ihn und hielt das Gleichgewicht, wiegte sich leicht wie ein Adler im Wind. Sei eine Wölfin, dachte sie, sei mein Herz, mein Hunger. Sei meine Freiheit.
Einen Herzschlag lang beutelten grässliche Schmerzen ihren gesamten Körper, als wäre sie in einen Brennofen geworfen worden; doch sie vergingen fast so schnell, wie sie eingesetzt hatten, ließen ihr nicht mehr Zeit, als ein Mal scharf die Luft einzusaugen. Das Nächste, was sie wahrnahm, war, dass sie von einem neuen Sinn überwältigt wurde, dem Geruchssinn; Gerüche so üppig und tiefreichend, dass sie den Eindruck farbenprächtiger Bilder vermittelten, fluteten ihr plötzlich in die Nase und bis auf die Zunge.
Sie konnte den Bogen riechen, er roch wie versengtes Metall, heiß und gefährlich, der Gestank von Hexerei. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie lehnte sich vor, um argwöhnisch am Stein des Bogens zu schnuppern. Er wird dich nicht verbrennen, sagte der Wolf. Beeil dich. Du hast viel Zeit vergeudet.
Maerad hielt sich nicht damit auf, sich darüber zu wundern, dass sie auf allen vieren stand. Stattdessen sammelte sie sich und sprang durch den schwarzen Bogen. Sie spürte, wie sein Bann sich vor ihr öffnete und nahtlos hinter ihr schloss, als tauchte sie so geschmeidig in Wasser, dass sich hinter ihr nicht die kleinste Welle kräuselte. Als sie auf der anderen Seite landete, hinterließ sie keine Spur im Schnee, obwohl sie bis zum Eingang von Arkan-da menschliche Fußabdrücke sah, die bereits unter einer dünnen Schneeschicht zu verwischen begannen.
Wortlos drehte der Wolf sich um und setzte sich in Bewegung, die Südstraße entlang. Maerad sprang hinter ihm her, und ihr Herz schlug dabei plötzlich höher. Alle Müdigkeit schien von ihr abgefallen zu sein. Sie war eine Wölfin, schlank, schnell und stark, und wenn sie wollte, konnte sie Tag und Nacht laufen. Wohlig spürte sie die Arbeit ihrer Muskeln, die Hitze des Rennens, ihre unbändige Kraft.
Sie war frei.
Langsam wich die Dunkelheit vom Himmel, als die Sonne über den Bergen aufging und die lichten Wolken in Rot tünchte. Leichter Schneefall hatte eingesetzt, ließ müßig Flocken um die Wölfe wirbeln und dort, wo ihre Pfoten auf den Boden trafen, in kleinen weißen Wölkchen aufstieben. Sie rannten gleichmäßig mit einer Geschwindigkeit, die das Gelände an ihnen vorbeifliegen ließ, und sie befanden sich bereits weit von Arkan-da entfernt auf der Passstraße, die durch die Berge führte. Mittlerweile spürte Maerad, dass der Weg sich abwärts
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