Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
wollte.
Hem hatte das Gefühl, seinen eigenen Körper nicht mehr zu kennen. Er war größer, vielleicht eine Hand breit, als bei seiner Ankunft in Turbansk, wodurch er sich in letzter Zeit ungewöhnlich linkisch gebarte und Dinge umstieß, weil er nicht mehr einzuschätzen vermochte, wie lang seine Arme und Beine waren. Er fühlte sich nicht mehr wie ein Knabe von zwölf Jahren. Seine Stimme brach, und ihm war aufgefallen, dass die Haare an seinem Körper dichter und dunkler wuchsen. All dies empfand er als beunruhigend genug, doch in seinem Inneren war es noch schlimmer: All die ungesehenen Teile seiner selbst hatten sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. In der Zeit in den Heilhäusern hatte er mehr gelernt, als Glieder zu verbinden und aufgerissene Haut zu heilen: Er hatte gelernt, Geduld mit jenen zu haben, die Schmerzen litten, und die Bedürfnisse anderer ohne Worte zu erspüren. Doch die Veränderungen in ihm gingen über das Ausmaß dieser neu gewonnenen Fähigkeiten hinaus.
Selbst so zu denken, war neu für ihn. Hem war nie besonders in sich gekehrt gewesen. Seine grausame Kindheit hatte ihn gelehrt, stets misstrauisch vorauszublicken und sich ohne Nachdenken oder Bedauern der jeweiligen Lage entsprechend zu verhalten. Nun jedoch, während er Saliman und Soron durch die Dunkelheit der Bäume folgte, schienen verschiedene Gedanken aus eigenem Antrieb an die Oberfläche aufzusteigen. Wochenlang hatte er kaum Zeit gehabt, etwas anderes zu tun als zu schlafen, zu essen und zu arbeiten. Es war, als hätte sich in seinem Geist eine Heerschar von Gedanken aufgestaut, die nun seine Aufmerksamkeit forderte. Einerseits hatte er seit mittlerweile mehreren Tagen keine Albträume mehr gehabt. Fast so lange er zurückdenken konnte, war er jede Nacht davon heimgesucht worden. Er hatte gedacht, sie wären deshalb verschwunden, weil er so müde gewesen war und zu tief geschlafen hätte, um sich daran zu erinnern. Nun jedoch dachte er niedergeschlagen, es könnte auch sein, dass die Dinge, denen er sich tagtäglich in Turbansk hatte stellen müssen, schlimmer als seine Albträume gewesen waren. Vielleicht, dachte Hem, fürchte ich mich nicht mehr so sehr; oder zumindest nicht vor den Dingen, die mir früher Angst gemacht haben.
Andererseits wusste er, dass er zugleich mehr Angst hatte als je zuvor. Er fürchtete um jene, die er liebte, um Maerad und Zelika und Saliman; doch er fürchtete auch um die Welt. So ausgedrückt, hörte es sich töricht an, dennoch stimmte es. Er hatte vor Turbansk die Streitkräfte der Finsternis gesehen, ihre Rücksichtslosigkeit und Zerstörungswut, und nun malte er sich aus, wie es wäre, wenn sie überall Einzug hielten. Die Erinnerung an die Totenkrähen, an das Gefühl, dass alles an diesen Kreaturen so völlig falsch war, ließ ihn immer noch schaudern: Was, wenn die ganze Welt so würde, vergiftet von derselben Krankheit?
Er betrachtete Salimans Rücken, der sich etwa eine Spanne vor ihm befand, während der Barde sich einen steten Weg durch das in Schatten getünchte Unterholz bahnte. Seine Schritte verrieten in keiner Weise die Erschöpfung, an der er leiden musste; wie Cadvan, der sich ebenfalls über die Grenzen der Erschöpfung hinaus zu fordern verstand, schien Saliman aus Eisen zu bestehen. Bei Soron hingegen zeigten dessen herabhängende Schultern seine Müdigkeit, zudem stolperte er bisweilen. Und dabei war es Saliman gewesen, der stundenlang gekämpft hatte, bevor er sie durch die Höhlen führte.
Hem dachte darüber nach, was Saliman zuvor gesagt hatte: Ich kämpfe nicht, weil ich den Krieg liebe oder mich an Waffen erfreue, son dern weil ich muss. Saliman mochte ein großer Krieger sein, dennoch widerstrebte ihm der Krieg. Wie Hem war er ein Heiler. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie einander auf Anhieb gemocht hatten.
Als Hem dem Barden in Nelacs Gemächern in Norloch zum ersten Mal begegnet war, hatte er ihn wie eine Gestalt aus seinen Tagträumen empfunden. An seinen eigenen Vater konnte Hem sich nicht erinnern, und so lange er zurückdenken konnte, hatte er, wenn er im Waisenhaus auf seiner kärglichen Pritsche gelegenhatte, von einem Vater wie Saliman geträumt: heldenhaft, gut aussehend, klug … Als Saliman angeboten hatte, ihn nach Turbansk zu bringen, war dies für ihn gewesen, als gingen seine Träume in Erfüllung. Zwar hatte er seine Schwester dafür zurücklassen müssen, doch er hatte jemanden erhalten, der in gewisser Weise der Vater werden konnte,
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