Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
in ihm auf. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, was aus den Leuten geworden war, um die er sich in den Heilhäusern so beflissen gekümmert hatte. Es mochte ihnen gelungen sein, aus der Stadt zu fliehen, doch genauso gut konnten ihre Schiffe gekentert und auf den Grund des Lamarsan-Meeres gesunken sein.
Und unter all den Dingen, die in den Wirren des Krieges verloren gegangen waren, unter all dem zerbrochenen Spielzeug, den niedergebrannten Häusern, den für immer auseinandergerissenen Familien, den ausgelöschten Leben; unter all den Dingen, die Hems müder Verstand nicht zu erfassen vermochte, weil sie zu zahlreich waren - zu viele Tragödien, zu viele Verluste, zu viele Tränen;unter all jenen Dingen würde Amira, ein junges Mädchen, nie erfahren, dass ihr Vater, Boran, der Kaffeeverkäufer, im Augenblick seines Todes an sie gedacht hatte.
Während sie durch den dunklen Irrgarten der Höhlen marschierten, verursachte dies Hem mehr Kummer als alles andere. Es war eine Aufgabe, die er sich aufgebürdet hatte, eine bittere Verantwortung, mit der er betraut worden war. Als er gelobt hatte, Amira die letzten Worte Borans mitzuteilen, hatte er keine Ahnung gehabt, wie er dies bewerkstelligen sollte. Trotzdem hatte er geglaubt, dass es ihm eines Tages irgendwie gelingen könnte, das Mädchen zu finden und ihm von seinem Vater zu erzählen. Nun allerdings wurde ihm die Aussichtslosigkeit seiner Hoffnung bewusst. Wie sollte er Amiraje finden? Womöglich war sie selbst bereits tot - woher sollte er es wissen? Sein mit solcher Inbrunst, solchem Mitgefühl abgegebenes Gelübde war ein Versprechen, das er nie zu erfüllen vermöchte. Hem stieg eine so überwältigende Verbitterung in die Kehle, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen. Er presste den Kiefer zusammen, verbannte die Erinnerung an Boran aus seinem Kopf und bündelte alle Gedanken darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen, immer und immer wieder, weiter und weiter durch die endlosen, flackernden Schatten.
Saliman führte sie unbeirrbar durch das Gewirr der felsigen Gänge, und Hem fragte sich, wie oft der Barde schon in diesen Höhlen gewesen sein mochte. Er erinnerte sich an Salimans häufige Abwesenheit in Turbansk und daran, dass er ihm erzählt hatte, er wäre in Den Raven gewesen. Vermutlich hatte er dabei ebensolche Gänge benutzt. Wahrscheinlich erstreckten sich diese Pfade bis zum Ehernen Turm.
Nach mehreren Mahlzeiten hörte Hem gänzlich auf zu denken. Allein sich auf den Beinen zu halten, bedurfte all seiner geistigen Kraft. Schlafen bildete nur noch eine vereinzelte Unterbrechung in den endlosen Tunneln, die Hem mittlerweile hasste. Irgendwann war Sorons Lampe ausgebrannt, und sie setzten den Weg mit magischen Lichtern fort, die steter, aber schwächer als der gelbliche Lampenschein waren. Die vier Menschen bewegten sich zunehmend wie durch einen Traum voran. Irc blieb fast völlig still. Zwar nahm er an den Mahlzeiten teil, da nicht einmal die endlose Finsternis seinen unerschöpflichen Appetit zu zügeln vermochte, doch sein gewöhnlicher Überschwang war verpufft. Wie sie alle ertrug er das Dasein nur noch.
Endlich hielt Saliman vor einer Felswand, in die, wie Ham sah, Runen eines Stils geritzt waren, den er nicht erkannte. Teilnahmslos sah er zu und dachte, Saliman ginge sein Gedächtnis durch, um sich daran zu erinnern, wo sie als Nächstes abbiegen mussten; stattdessen hob der Barde den Arm, und das Licht der Magie schimmerte rings um ihn. »LIrc?n!«, rief er aus, und plötzlich war die Wand verschwunden.
Vor ihnen befand sich ein breiter Bogendurchgang, hinter dem eine riesige Höhle lag, an deren fernem Ende eine einzelne Fackel brannte. Saliman wandte sich seinen Gefährten zu und lächelte.
»Endlich sind wir hier«, verkündete er.
»Wo sind wir?«, fragte Zelika und blickte verwirrt drein.
»Wir sind am Eingang zu Nal-Ak-Burat angelangt«, erklärte Saliman. »Einst war dies eine Stadt, die vor so langer Zeit unter der Wüste errichtet wurde, dass die Menschen, die sie erbaut haben, mittlerweile in Vergessenheit geraten sind. Für die Stadt selbst hingegen gilt das nicht. Selbstjetzt noch leben hier einige Menschen. Kommt. Bleibt dicht bei mir, während wir die Höhle durchqueren.«
Schweigend folgten sie Saliman durch den Bogen in die weitläufige Höhle und über bearbeitete Steinplatten auf die Fackel zu, die an deren fernem Ende flackerte. Die Höhle ragte so hoch auf, dass ihre Decke in der Dunkelheit verborgen
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