Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
Sommermorgens unmittelbar in die Augen schien. Verschlafen drehte er sich kurz davon weg und presste die Lider zu. Sonnenlicht?, dachte er bei sich, war ruckartig hellwach und setzte sich jäh auf.
Er saß auf weichem Gras unter einem gewaltigen Baum, der sich hunderte Spannen über seinen Kopf erstreckte und gesprenkelten Schatten rings um ihn ausbreitete. Vor ihm kletterte im Osten gerade die Sonne über dicht bewaldete Hügel, von denen sich träge Nebelschwaden emporkräuselten und auflösten. Der Himmel über ihm wies ein klares, helles Blau auf, die Luft war frisch und kalt, als wäre sie noch nie zuvor geatmet worden, Ich muss träumen, dachte Hem bei sich. Allerdings erschien ihm dies ein wirklichkeitsgetreuerer Traum als jeder andere, den er zuvor gehabt hatte. Er stand auf und klopfte sich mit den Armen an die Seiten, um sich zu wärmen. Einer Eingebung folgend, berührte er den breiten Stamm des Baumes und fragte sich, um was für eine Art es sich handelte: Er erkannte sie nicht. Der Stamm war papierartig weiß, die Blätter wuchsen klein, dunkel und dicht an anmutigen Ästen. Als Hem die Rinde berührte, durchlief ihn ein plötzlicher Schauder: Der Baum schien unter seinen Fingern zutiefst lebendig zu sein, und einen Schwindel erregenden Lidschlag lang vermeinte er beinah, die Musik zu hören, die der Baummann ihm in Nal-Ak-Burat ins Ohr gehaucht hatte. Verwundert ging Hem um die gewaltige Breite des Baumes herum und schaute nach Westen. Vor ihm breiteten sich Ebenen aus, so weit das Auge reichte. Sie strotzten vor rosa und gelben Gräsern, die in der leichten Brise zitterten. In weiter Ferne erspähte er etwas, das riesige Tierherden zu sein schienen, die sich langsam wie dunkle Wolken über das Land bewegten.
Hem schüttelte den Kopf. Er war in einer dunklen Hütte eingeschlafen, in der es widerwärtig nach dem muffigen Moder von dreißig schlafenden Körpern gerochen hatte; es war unmöglich, dass er sich nun an einem Ort wie diesem befinden konnte. Er kniff sich so heftig in den Arm, dass ein blauer Fleck entstand, dennoch veränderte sich nichts. Abermals ging er um den Baum herum, dann setzte er sich und atmete tief ein und aus, während ein Gefühl der Erleichterung seinen Körper durchflutete. Nach einer Weile erkannte er, woher die Erleichterung rührte: Zum ersten Mal seit Tagen verspürte er keine Übelkeit. Sein Irdsinn tauchte mit wohliger, zufriedener Freude tief in den Boden.
Wo bin ich?, fragte er sich. Ihm war nicht bewusst gewesen, dass er laut gesprochen hatte, dennoch musste er es getan haben, denn jemand antwortete ihm. Nicht wo, sagte eine Stimme, sondern wann.
Hem zuckte zusammen; seine Haut kribbelte vor Schreck. Wild sah er sich um, doc h er konnte nicht sehen, wer zu ihm sprach.
Fürchte dich nicht, fuhr die Stimme fort. Hier geschieht dir kein Leid. Atme die gute Luft.
Hem starrte den Baum an. Vermutlich stammte die Stimme von ihm: Er hatte sich so lebendig angefühlt. Sprichst du mit mir?, fragte er und fühlte sich dabei töricht. Eine Pause entstand, dann zuckte die Luft vor Hems Augen, als wäre sie ein Vorhang, und ein nackter Mann stand plötzlich vor ihm. Sofern >stehen< das richtige Wort war, dachte Hem; eigentlich schwebte er in einer Kugel, die vor Wellen schimmernden Lichts zu wabern schien, über dem Boden. Sein dunkles, langes Haar wallte ihm den Rücken hinab, und er besaß helle Haut; was jedoch Hems Aufmerksamkeit erregte, waren die Augen - golden und von einer geschlitzten Pupille geteilt. Ein Elidhu … Wir sind uns schon früher einmal begegnet, sagte der Elidhu. Oder war es später? Manchmal ist das schwer zu sagen.
Hem nickte mit plötzlich trockenem Mund. Er erkannte,dass dies derselbe Elidhu war, den er in Nal-Ak-Burat gesehen hatte, obwohl er keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Wesen hatte, das halb Baum, halb Mensch gewesen war. In dieser Erscheinungsform wirkte er weniger Furcht einflößend, dennoch hämmerte Hems Herz wild in der Brust. Hier unter freiem Himmel schien er wilder, ungezähmter, schöner.
Gefällt dir mein Heim?, fragte der Elidhu. Dies bin ich selbst.
Hem nickte inbrünstig, wenngleich er nicht ganz verstand. Jedenfalls fühlte er sich ohnehin außerstande, zu sprechen. Der Elidhu lachte, dann streckte er den Arm aus und berührte Hems Stirn. Seine Hand war trocken und kühl. Hem schauderte, jedoch nicht vor Angst, sondern vor einem tief empfundenen Verzücken und einer wohligen Wärme, die sich durch seinen Leib ausbreitete.
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