Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
Mensch gewesen war. Nun erinnerte kaum noch etwas daran. Nur ein gefesselter, völlig verheerter Kadaver, immer noch Mitleid erregend anzuschauen. Hems Magen verkrampfte sich vor Abscheu, Grauen und Mitgefühl. Er hatte noch nie etwas so Schauderhaftes und Abartiges gesehen. Als Plünderer mit vor Verzücken glasigen Augen zu ihm kam, zwang er sich, zu grinsen. »Puh! War aber auch mal wieder Zeit für so etwas!«, meinte Plünderer und rieb sich mit einem widerwärtigen Abklatsch von Freude die Hände. »Hast du gesehen, wie er sich angepinkelt hat? Und sieh nur!« Er hielt einen Fleischbrocken hoch. »Ich habe sein Ohr!«
Hem stieß ein heiseres Lachen aus und folgte Plünderer in die Messe.
In jener Nacht dachte Hem ernsthaft über Flucht nach. Er glaubte nicht, dass er es noch länger ertragen könnte. Unweigerlich musste er an die entfesselte Menge denken, wie sie sabbernd und mit glasigen Augen in tödliche Raserei verfallen war. Er konnte den Gesichtsausdruck des getöteten Jungen nicht vergessen, seine völlige Verzweiflung und sein Grauen, als die wahnsinnigen Kinder auf ihn zurannten.
Hatte Zelika am Ende auch der Kötertod ereilt? Hastig verdrängte Hem den Gedanken; er war zu unerträglich, um ihm weiter nachzugehen. Hem weigerte sich zu glauben, dass Zelika tot war. Und selbst wenn nur die geringste Möglichkeit bestand, dass sie noch lebte, würde er weitermachen, bis er sie fände. Er würde sie retten, und damit basta.
Hem fragte sich, wer die Bluthunde gewesen waren, bevor sie in brutale Sklaverei geraten waren, welchen Familien sie entrissen worden waren. Nur ganz vereinzelt sah er ein flüchtiges Aufflackern jener früheren Leben über ihre Gesichter huschen: Geister sanftmütigerer Gefühle, auf die stets eine kurze benommene Verwirrung folgte; derselbe Ausdruck, den er in Nisrahs Gesicht gesehen hatte, als Zelika ihn dazu bewegen wollte, mit ihr zu flüchten. Wer würden die Bluthunde sein, wenn sie das Lager überlebten? Wie könnten sie damit leben, was sie gewesen waren? Hem war selbst kein Unschuldslamm: Er wusste, was Kinder einander antun konnten. Eigentlich hatte er gedacht, er sei auf alles vorbereitet, was ihm begegnen könnte. Nun wurde ihm klar, dass er sich geirrt hatte. Die Kräfte in diesem Lager waren weit giftiger als die gedankenlose, ungestüme Grausamkeit leidender Kinder: Die Gewalt wurde gesteuert, war gebündelt und tödlich. Dahinter steckte Verstand.
Es bereitete Hem eine Heidenangst.
Doch unter seiner Furcht schwelte entsetztes Mitgefühl. Ob Mörder oder Ermordete, jeder Bluthund verkörperte ein Opfer.
Hem hatte lange nicht mehr an Maerad gedacht. Seine Schwester war in einen hinteren Winkel seines Verstandes gerutscht, zu einer Sorge und einem Kummer unter vielen anderen geworden: seiner Angst um Saliman und Soron; seines Grams, weil er gezwungen gewesen war, Oslar und seine Berufung zum Heilen zurückzulassen; seine Trauer über die Zerstörung der prächtigen Stadt Turbansk, eine Verheerung, deren volles Ausmaß er sich immer noch nicht vorstellen oder verstehen konnte. Doch in jener Nacht tauchte ihr Gesicht so lebendig in seinem Geist auf, als hätte sie ihn über die dunklen, leeren Wegstunden hinweg gerufen, die sie voneinander trennten. Mit einem Anflug von Schuldgefühlen erkannte er, wie lange es her war, seit er zuletzt an sie gedacht hatte, und seine Sehnsucht nach ihr brach in ihmauf wie eine frische Wunde. Er vermisste sie so sehr. Er hatte sie sein ganzes Leben lang vermisst.
Der Albtraum, der ihn umgab, war kein geisterhafter Schatten eines Traums; nichts konnte dessen Übel von seiner Seele nehmen. Aber in jenem Augenblick wünschte Hem sich mehr als alles andere auf der Welt Maerads zierliche, kühle Hände auf der Stirn, auf dass sie die bösen Träume hinfortwischten. Er wünschte sich den Trost ihres atmenden Körpers neben sich, wenn er schlief, die vielschichtige Würze ihres unverwechselbaren Dufts. Eine traurige Liebe erfüllte seinen Körper, ein süßer, unheilbarer Schmerz, der ihn vom Mark seiner Knochen aus durchdrang. Maerad, meine Schwester…
Als er letztlich in einen unruhigen Schlaf sank, kehrte der Traum von der stillen Woge zurück und ließ ihn aufschreien, wenngleich er darob nicht erwachte. In seinem Traum erkannte er, dass der träge geschmolzene Zorn der Erde einen Teil der Musik bildete, die der Baummann ihm zugeflüstert hatte, die eindringlichen Bassnoten. Selbst im Schlaf ertappte Hem sich dabei, dass er sich
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