Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
Ich kann nicht nachvollziehen, warum er noch mehr wollte.« Saliman schüttelte den Kopf. »Man kann nicht mehr als drei Mahlzeiten am Tag essen oder gleichzeitig in mehr als einem Haus wohnen. Wenn man hat, was man braucht, ja sogar mehr als das, was nützt es dann, noch mehr hinzuzufügen?«
»Es geht nicht um den Nutzen«, sagte Hem. »Es hat mit etwas anderem zu tun.« Saliman, dachte er, war wie die meisten Barden. Er konnte das hohle Verlangen nach Reichtum nicht begreifen. Selbst die Untoten verstanden es nicht und verschmähten weltlichen Besitz. Sie trieb das pure Verlangen nachMacht und Herrschaft an. »Habt ihr ihn gefunden?«, fragte Hem, als Saliman sich wieder in Schweigen hüllte. »Ja«, antwortete der Barde. Angewidert verzog er das Gesicht. »Ja, das haben wir. Und als wir ihn unter Druck gesetzt haben, verriet er uns ein paar nützliche Dinge, die gut zu wissen sind -darüber, woher die Finsternis über unser Treiben weiß. Wir kennen jetzt die Namen derer, die der Finsternis unsere Zufluchtsorte verraten haben.« Hem fragte sich, was Saliman und Soron getan haben mochten, um Alimbar zum Reden zu bringen. Vielleicht, dachte er schaudernd, hatten sie ihn einem Seelenblick unterzogen. »Habt ihr ihn getötet?«, erkundigte er sich mit leiser Stimme. Er war nicht sicher, ob er es erfahren wollte.
Saliman überlegte kurz, ehe er antwortete. »Nein. Ich habe das Gleichgewicht geachtet… Solche Dinge unterliegen ihrer eigenen Gerechtigkeit, die zu beurteilen uns nicht zusteht, und Gnade ist stets diehöhere Weisheit. Aber er hat sich mit Imank eingelassen, und ich denke, das wird ihm nun, da Sharma den Aufstand niederschlägt, nicht gut bekommen. Und er wagt nicht, irgendjemandem zu erzählen, was er uns preisgegeben hat, weil er sonst doppelt verräterisch erscheinen würde. Nun windet er sich in einem Schraubstock, den er sich selbst geschaffen hat. Von höheren Gnaden abgesehen empfinde ich kein Mitleid für ihn.«
Hem fühlte sich erleichtert. Irgendwie hatte ihn die Vorstellung beunruhigt, dass Saliman jemanden kaltblütig gemeuchelt haben könnte, so gerecht es auch gewesen wäre.
»Ich finde, es war richtig von euch, ihn nicht zu töten«, meinte er nüchtern. »Es gibt ohnehin überall zu viel Tod.«
»Ja, Hem«, pflichtete Saliman ihm leise bei. »Viel zu viel. Und was nützt es, gegen die Finsternis zu kämpfen, wenn wir das Gleichgewicht vergessen und uns selbst auf ihre Ebene hinablassen? Was verteidigen wir dann noch?«
Hem lächelte, doch es lag keine Freude darin. Er begegnete Salimans Blick, erwiderte jedoch nichts. Er dachte an den Augenblick, in dem er wie ein Bluthund geworden war, überwältigt von der Raserei des Tötens; bei der Erinnerung daran fühlte er sich besudelt. Eine Weile saßen sie schweigend da und lauschten den Geräuschen der Nacht. In der Ferne hörte Hem die seltsamen Rufe der Kreaturen, die in den Glandugir-Hügeln jagten; schaudernd rückte er näher ans Feuer. Dessen kleiner, tröstlicher Schein flackerte wacker in der mächtigen Dunkelheit, die sie umgab.
In jener Nacht träumte Hem, dass er über eine grüne Weide voller Wildblumen und mit fast kniehohem Gras wanderte. Er erreichte eine hohe Hecke, entriegelte ein Tor und betrat einen Obstgarten mit Apfelbäumen. Es war Anfang Frühling, und alle Bäume trugen die schwere Last rosiger und weißer Blüten. Wie Schnee übersäten etliche davon den Boden, und zwischen den weiß gesprenkelten Gräsern lugten Narzissen, Glockenblumen und Krokusse verschiedenster Farben hervor.
Er schlenderte weiter in einen Garten, der gerade aus seinem Winterschlummer ergrünte, und folgte einem Pfad aus gerechten weißen Kieseln zu einem wunderschönen Haus. Hem wusste, dass es sein Zuhause war, obwohl er diesen Ort noch nie zuvor gesehen hatte. Es war ein langes, zweistöckiges Gebäude aus gelbem Stein mit breiten Fenstern, die im Sonnenschein gleißten.
Hem kehrte um und begann, zwischen den Apfelbäumen umherzuwandern. Die Blütenblätter bildeten sanfte Verwehungen auf dem Boden, und ihr Duft stieg in die herbe Luft auf, als er sie unter den nackten Füßen zertrat. Amfernen Ende des Obstgartens befand sich ein Holzschuppen. Langsam ging er darauf zu und duckte sich dabei unter tief hängenden Asten hinweg, die ihm ihre feuchte Blütenpracht ins Gesicht fegten. Er entriegelte die Tür des Schuppens, betrat ihn und atmete voll tiefer Wonne ein: Im Inneren roch es süßlich und irden. Entlang der Wände stapelten
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