Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
entkommen. Als das heilige Licht ihres Feuers über die grauen Steinwände flackerte, fühlte Maerad sich beinah unbeschwert.
»Also, was gedenkst du zu tun?«, fragte Cadvan, nachdem sie ihre Mittagsmahlzeit beendet hatten.
Maerad blickte ihn überrascht an; es sah Cadvan nicht ähnlich, so unverblümt zu sein. »Ich weiß es nicht«, gestand sie. »Ich habe ‘en ganzen Vormittag darüber nachgegrübelt. Es gleicht nichts, was ich je zuvor versucht habe, weil ich in gewisser Weise gar nichts zu tun versuche. Ich meine, wenn ich früher Dinge getan habe, dann sind sie einfach geschehen, weil ich verängstigt oder wütend war oder weil ich etwas unternehmen musste. Als ich ich beispielsweise zum ersten Mal in eine Wölfin verwandelt habe, war der Grund dafür, dass Ardina mich dazu aufgefordert hat. Ich dachte einfach daran, was ich geschehen lassen wollte, und ließ den Dingen ihren Lauf. Beim Kampf gegen den Landrost war es dasselbe, nur schwieriger; alles, woran ich dachte, ar, wie ich ihn davon abhalten könnte, meine Freunde zu töten. Aber das hier ist völlig anders. Ich will in der Lage sein, all meine Kräfte zu verwenden, und ich weiß, dass ich dafür meine - meine Gesamtheit finden muss … Aber wie macht man das? Ich meine, es wird nichts helfen, sich das nur zu wünschen…«
Kurz verstummte sie, dann richtete sie einen scharfen Blick auf Cadvan. »In gewisser Weise verstehe ich nicht, wieso der Gedanke dich so verstört«, sagte sie. »Geht es beim Gleichgewicht nicht sowohl um die Finsternis als auch um das Licht? Hast du nicht selbst häufig gesagt, dass man das Licht ohne die Finsternis nicht wahrnehmen kann? Und genau das ist es doch, was ich tun will.« Cadvan blickte verdutzt drein. »Ja, du hast recht«, erwiderte er. »Es gilt, ein Gleichgewicht zu finden. Aber in dir, Maerad, schlummert eine Finsternis, die mich argwöhnisch macht; sie ist anders als jede, die ich zuvor gespürt habe. Ich habe versucht, darüber mit dir zu reden.« Ein Schatten strich über seine Züge, als er sich an ihren bislang schlimmsten Streit erinnerte, an einen Bruch, der beinah mit ihrer beider Tod geendet hätte. »Ich fürchte, dass es in dieser Finsternis kein Gleichgewicht gibt. Oder vielleicht kein Gleichgewicht, wie Barden es verstehen.«
»Vielleicht umfasst das Weistum der Barden nicht alles, was es zu wissen gibt«, hielt Maerad dem entgegen.
»Das Bardentum gibt keineswegs vor, über jegliches Wissen zu verfügen«, erwiderte Cadvan in schärferem Ton als beabsichtigt, und Maerad wandte den Blick ab. »Du solltest aber auch die Elementare nicht für allwissend halten, Maerad, nur weil sie über Weistum verfügen, das wir nicht besitzen.« Maerad dachte an die kalten, hochmütigen Züge Enkirs. »Manche Barden glauben, dass ihr Weistum überjedem anderen steht«, sagte sie.
»Ja«, pflichtete Cadvan ihr bei, der erkannte, worauf sie hinauswollte. »Aber solche Barden beachten das Gleichgewicht nicht, Maerad. Ihre Geister sind zu nüchtern und kalt und dulden keinen Widerspruch. Wie dem auch sei, wir könnten den ganzen Tag über das Gleichgewicht reden und der Wahrheit keinen Schritt näher kommen. Ich kehre daher zu meiner früheren Frage zurück: Was gedenkst du zu tun?«
Maerad zog den Mantel enger um sich und beugte sich dichter ans Feuer, spürte dessen heilsame Wärme auf den vom Wind rauen Wangen. »Ich will versuchen, herauszufinden, ob ich größer bin«, sagte sie. »Was ich mir überlegt habe: Wenn ich mich in eine Wölfin verwandle, kehre ich mich in mein Innerstes, tiefer und tiefer und tiefer, bis ich keinen Namen mehr habe. Und als ich gegen den Landrost gekämpft habe, kehrte ich mich nach außen, weiter und weiter und weiter, bis ich nicht mehr wusste, wer oder was ich war.«
Sie kauerte sich auf die Fersen zurück und wischte sich die Haare aus den Augen. »Also dachte ich mir: Was, wenn ich beides nicht mache, sondern versuche, zu bleiben, wo ich bin, und zu sehen, ob ich mehr werden kann? Ich meine, vielleicht bin ich, wenn ich mich nach innen oder außen kehre, wie ein Speer, etwas Schmales, sodass ich all die Schichten des Daseins durchdringen kann. Aber vielleicht muss ich - na ja, wie ein See sein, breit und zugleich tief oder hoch.« Mit vor Nachdenklichkeit gerunzelter Stirn schaute sie auf, und als sie Cadvans eindringlichem Blick begegnete, glättete sich ihre Stirn, und sie lachte unverhofft. »Ich habe wohl gerade einen ganzen Berg Unsinn geredet!«
Cadvan lächelte
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