Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
und sie sah Cadvan nicht an. Dieser schwieg lange. »Maerad, ich will ehrlich sein. Es scheint ohnehin eine Nacht der Ehrlichkeit zu sein …« Er seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Dabei erkannte Maerad einen Lidschlag lang, wie müde und angespannt er wirklich war. »Ich fürchte mich vor dem, was in dir haust. Niemand bei rechtem Verstand könnte anders empfinden. Ich habe dergleichen noch nie gesehen und hoffe, es nie wieder zu tun. Eine Macht, die in der Lage ist, ein Wesen wie den Landrost… auszulöschen, nimmt man nicht auf die leichte Schulter. Selbst die Zerstörung eines Unholds oder Kulags übersteigt, was ich für möglich gehalten hätte, aber ein Elementarwesen, auch wenn es ein weniger mächtiges gewesen sein mag … es ist beängstigend, Maerad, dass so viel Kraft in einer sterblichen Hülle bestehen kann. Aber das bedeutet keineswegs, dass ich mich vor dir fürchte.«
»Sondern vor dem, was in mir ist«, meinte Maerad traurig. »Ich verstehe. Aber es ist so sehr ein Teil meiner selbst wie meine Augen, meine Stimme, meine Musik oder meine-meine Hände.« Sie streckte sie vor sich, die unversehrte und die verstümmelte, und betrachtete sie. Immer noch hatte sie sich nicht an den Anblick gewöhnt. »Ich bin, was ich bin - alles, was mir je widerfahren ist, alles, was ich je gelernt habe, alles, was in mir geboren wurde.«
»Ja, das gilt für uns alle«, bestätigte Cadvan. »Und all die Entscheidungen, die wir je getroffen haben …«
»Ich muss immerzu daran denken … Alles, was ich im vergangenen Jahr wirklich gelernt habe, ist, wie man tötet. Wie man zerstört. Von jener ersten Schlacht gegen die Werwesen über die Untoten und den Kulag bis hin zum Landrost, und - und sogar eine Bardin.« Maerad steckte die Hände unter den Mantel, wo sie die fehlenden Finger nicht sehen konnte, und starrte ins Feuer.
»Ist das wirklich alles, was du gelernt hast?«, fragte Cadvan mit sanfter Stimme nach. »Gewiss hast du auch andere Dinge gelernt. Nicht vielleicht auch etwas über Liebe?«
Maerad spürte, wie sie errötete, und sie schwieg eine lange Weile. »Vielleicht. Ich weiß es nicht«, antwortete sie schließlich. »Ich glaube nicht, dass ich wirklich etwas darüber weiß.«
»Was ist es dann, das dich zu Hem hinzieht?«
»Er ist mein Bruder, er ist ein Teil von mir. Mir widerstrebt der Gedanke zutiefst, dass er verängstigt sein könnte oder krank oder vielleicht allein …« Sie blickte wieder zu Boden. »Ich habe gelernt, dass die Menschen - freundlich sein können«, räumte sie zögerlich ein. »Silvia, Malgorn, Dharin, du und so viele andere sind freundlich zu mir gewesen.«
»Ich glaube, es ist mehr als Freundlichkeit. Aber ich gebe dir recht, Freundlichkeit ist ein Wort dafür. Maerad, ich denke, das Böse in Menschen ist leicht zu erklären. Was wir jedoch als Freundlichkeit oder Liebe bezeichnen, ist unendlich geheimnisvoll. Und ich glaube nicht, dass du nichts über Liebe weißt. Ich denke, du hast Dernhil geliebt, trotz der kurzen Zeit, die du ihn gekannt hast. Und ich weiß, dass er dich geliebt hat.«
Maerad spürte, wie ihre Wangen noch heißer wurden. Sie hatte Cadvan nie von ihrem Besuch in Dernhils Kammer in Inneil erzählt. Es stimmte, Dernhil hatte sie geliebt. Und hätte sie sich selbst besser gekannt, hätte sie vielleicht etwas über ihr Herz erfahren.
»Dafür war … keine Zeit«, murmelte sie. »Und dann wurde er getötet.« Und er ist durch die Tore entschwunden, dachte sie verbittert, und ich kann nie wieder mit ihm reden. Ich wünschte, ich könnte ihm dafür danken, dass er mich vor den Untoten beschützt hat. Ich wünschte, ich könnte ihm sagen, dass ich etwas über die Wege des Herzens gelernt habe.
Sie schaute auf und stellte fest, dass Cadvan sie mit ernster Meine musterte. »Ich habe Dernhil geliebt«, gestand sie leise. »Aber es wurde mir erst später klar. Und jetzt ist er tot, und es ist zu spät.«
»Vermutlich wusste Dernhil, dass keine Zeit war. Er besaß Voraussicht …« Seufzend wandte Cadvan den Blick ab. »Aber er war jemand, der stets klar in sein eigenes Herz sah. Darin liegt die Schönheit seiner Gedichte. Ich wünschte, wir alle wären so einsichtig.« Damit verstummte er und hing eigenen Gedanken nach. »Aber ich habe auch gelernt, wie man hasst«, sagte Maerad.
»Früher, als ich klein war, glaubte ich, Gilman zu hassen, doch ihn habe ich nur verachtet. Enkir hasse ich. Und den Namenlosen. Ich hasse sie für alles, was
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