Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied

Titel: Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Croggon
Vom Netzwerk:
halb erinnertes Bild aus ihrer Kindheit… aber eigentlich wie nichts davon; es war etwas völlig anderes, für das sie keine Worte hatte. Doch keines dieser Dinge weder die Sterne, so es sich um Sterne handelte, noch diese andere, neue Wahrnehmung - wurde klarer, sosehr sie sich darum bemühte.
    Das Gefühl, im Nichts zu schweben, weder hier noch dort oder auch nur dazwischen zu sein, sich unnatürlich still zu verhalten, statt in natürlicher Bewegung zu sein, wurde allmählich unerträglich, wie eine Art Ersticken. Es schwoll an, bis sie ihm nicht mehr länger standhalten zu können glaubte, bis sie vermeinte, sie müsste sich nach außen oder nach innen bewegen, irgendwohin anders als an dem Ort ihres Seins, und sie spürte, wie eine hilflose Wut in ihr erwachte. Da erinnerte sie sich an den Grund, weshalb sie hier war. Bis dahin hatte sie ihn ob der schieren Eigenartigkeit dieses grenzenlosen Unraums vergessen, so vollständig wie die wichtigen Einzelheiten eines Traumes, die dem erwachenden Verstand entgleiten.
    Unter gewöhnlichen Umständen hätte Maerad diese Wut unterdrückt und versucht, nüchtern und sachlich zu denken. Wut ergriff nur in äußersten Notfällen Besitz von ihr, dann, wenn sie mächtig genug war, Maerads bewusste Herrschaft zu überflügeln. Diesmal gestattete sie ihr mit bewusster Willensanstrengung, weiter zu wachsen. Zunächst missfiel ihr das Gefühl so sehr wie das Ersticken, das diese Wut ausgelöst hatte; sie verspürte einen Schauder der Furcht, als es gleich einer roten Flut in ihr anstieg. Und wie eine Flut brachte es seltsame Trümmer mit sich; willkürliche Erinnerungsbruchstücke durchwirbelten sie, Dinge, an die sie seit Jahren nicht gedacht hatte. Alte, ungesühnte Verunglimpfungen, unvergoltene Verletzungen, erlittene Ungerechtigkeiten - lauter kleine Ereignisse, die sie zur jeweiligen Zeit beiseitegeschoben hatte, zu stolz, um darauf eine Regung zu zeigen - kehrten mit ihrer ursprünglichen Kraft zurück, wirkten mit unvermindert stechender Demütigung auf sie ein. Darauf folgten weniger belanglose Erinnerungen: der Tod ihrer Mutter, nachdem sie in den schäbigen Sklavenunterkünften von Gilmans Feste misshandelt und ihr Wille gebrochen worden war; die Ermordung ihres Vaters im Zuge der Plünderung Pellinors; die Spitze von Enkirs Dolch an ihrer kindlichen Kehle, als er ihre Mutter dazu erpresste, ihm preiszugeben, in welches Versteck Hem gebracht wurde. Ihre gesamte verlorene, verheerte Kindheit. Und all die Tode, die ihr selbst gefolgt waren: Dernhil, Dharin…
    Nichts davon war gerecht, und nichts davon war ihre Schuld. Jede Erinnerung ergriff Besitz von ihr, erfüllte sie mit bitterer Verzweiflung, bis ein entsetzlicher Hass wie eine rohe Flamme durch sie raste. Ihre Gedanken galten nur noch ihrem Schmerz, ihrem Verlust, ihrem verstümmelten Leben … Einen Augenblick lang wollte sie aufheulen und wäre beinah aus der wandelbaren Dunkelheit in ihre Wolfsgestalt gesunken; doch ein Überrest ihrer Absicht war verblieben und hielt sie davon ab, während sie vor unaussprechlichem, ungeformtem Hass pulsierte. Und als hätten ihr Hass und ihre Wut den Damm eines reißenden Flusses gebrochen, durchströmte ihr Inneres ein gleißendes, grelles Gefühl von Macht, so tödlich und unerbittlich wie eine Flut, wie ein Wolf beim Töten seiner Beute. Erregung erfasste sie, und sie vergaß ihren Hass; stattdessen aalte sie sich in der schieren Wonne der Macht. Etwas Ähnliches hatte sie empfunden, als sie sich zum ersten Mal in eine Wölfin verwandelt und ihre körperliche Kraft sie entzückt hatte; auch nachdem sie den Kulag getötet hatte, war sie von etwas Vergleichbarem durchzuckt worden, wenngleich sie sich damals vor dieser Freude gefürchtet hatte. Nun jedoch sah sie deutlich die dunklen Ranken, die das helle, sie durchströmende Gleißen durchzogen. Sie konnte alles tun; sie konnte töten, sie konnte zerstören; sie konnte die Hand ausstrecken und die Wurzeln jedes lebendigen Wesens verdorren lassen, oder sich vorbeugen, und Tote ins Leben zurückküssen; und der Gedanke entsetzte sie nicht. Sie blickte um sich und sah die Sterne so hell und riesig wie nie zuvor, angeordnet in Mustern, die jener neue Sinn, der sie zuvor so verwirrt hatte, lesbar gestaltete. Es war ein Sinn, der Energiefelder und -wirbel aufzuspüren vermochte; Maerad fühlte, wie sich jeder Stern in seiner Umlaufbahn bewegte, wie sich die Erde unter ihr drehte, wie die Gezeiten sich dem Mond unterwarfen. Sie

Weitere Kostenlose Bücher