Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Ich muss, so dachte sie, mein eigenes dunkles Auge öffnen…
Als die letzten Akkorde in der Luft verhallten, neigte sie das Haupt und ließ das Licht der Magie in ihr ersterben, dann schwiegen sowohl sie als auch Cadvan lange Zeit. Schließlich hob Maerad den Kopf und sah Cadvan unverwandt in die Augen. »Ich beginne jetzt«, verkündete sie.
Cadvan nickte. Er schien sich nicht im Geringsten zu fürchten, aber er wirkte sehr traurig, als verabschiedete er sich von ihr, die zu einer langen Reise aufbräche. Maerad holte tief Luft und schloss die Augen.
Sie betrat die Dunkelheit, die ihr innerstes Selbst war, den Ort, von dem aus sie alle Magie begann. Von diesem Ort aus konnte sie entweder durch ihre tiefer liegenden Wesensschichten hinabtauchen oder mit der geschärften Wahrnehmung, die sich durch die Dunkelheit ergab, nach außen tasten. Mit einer Willensanstrengung zwang sie sich zu bleiben, wo sie war, schwebend an der Schwelle der Möglichkeiten, und wartete, ob etwas geschehen würde.
Eine scheinbar lange Weile ereignete sich nichts. Maerad fiel es schwer, die Gedanken zu bündeln; an diesem Ort fühlte sie sich nebelhaft, als wäre sie nur halb vorhanden. Sie versuchte, aufmerksam und wach zu bleiben, die geheimnisvolle Beschaffenheit dieser inneren Welt zu spüren, das etwaige Verdichten von Schatten rings um sie wahrzunehmen. Doch es schien nichts zu geschehen. Langsam begann sie zu glauben, dass sie sich geirrt hatte, dass dies vielleicht doch nicht der richtige Ort war, um zu beginnen, als ihr auffiel, dass eine fahle Helligkeit zu herrschen schien, fein wie Sternenlicht. Es schwoll um sie an, als gewöhnte sich ihr innerer Blick daran.
Nach einer Weile war sie überzeugt davon, dass ihr Bewusstsein im Raum gewachsen war, doch es hatte sich so allmählich vollzogen, dass sie es beinah nicht bemerkt hätte. Wieder verspürte sie das Verlangen, weiterzuziehen - konnte man es überhaupt so bezeichnen? An diesem Ort schien es keine Richtungen zu geben, nur Zeit. Doch sie trotzte dem Drang erneut und blieb, wo sie war, richtete alles Augenmerk auf den Gedanken, größer zu werden. Größer?, fragte die Stimme in ihrem Kopf. Alles, was du versuchst, ist, dich selbst auszufüllen, das ergibt keinen Sinn … Kaum hatten ihre Zweifel sich Ausdruck verliehen, verlor sie die Konzentration, und die scheinbar vorherrschende Helligkeit verpuffte. Fast hätte sie sich enttäuscht zurückgezogen; während es nicht wirklich unangenehm war, sich in dieser seltsamen Unterwelt aufzuhalten, empfand sie es auch keineswegs als angenehm. Dann jedoch regte sich Sturheit in ihr, die Weigerung, bei der ersten Hürde aufzugeben. Maerad versuchte es erneut, diesmal ohne ihrem Zweifel und ihrer Unsicherheit zu gestatten, an die Oberfläche ihrer Gedanken zu dringen. Langsam erlangte sie ihre Konzentration wieder und hielt sich in einem seltsam qualvollen Schwebezustand. Diesmal setzte die trübe Helligkeit - falls es das war etwas schneller ein. Immer noch konnte sie nichts an diesem inneren Raum spüren; er existierte einfach merkwürdig formlos um sie herum - oder in ihr -, ohne irgendeine Beschaffenheit zu offenbaren. Sie fragte sich, ob sie etwas Willen ausüben sollte, statt die Untätigkeit zu wahren, die aufrechtzuerhalten ihr so schwerfiel, oder ob sie dadurch das Wenige zerstören würde, das sie bereits spüren konnte. Zuerst entschied sie sich dagegen, aber als nichts weiter geschah, wurde sie ungeduldig. Sie wollte nirgendwohin weiterziehen, aber sie wollte mehr über den Ort erfahren, an dem sie sich befand. Maerad dachte an ihre frühere Idee zurück, wie ein See zu werden, und sie stellte sich vor, ein großes Gewässer zu sein, formlos wie diese leicht schimmernde Dunkelheit, breitete sich in alle Richtungen aus, füllte sie.
Zunächst schien es zu wirken; oder zumindest begann sich die Helligkeit in winzige, verschwommene Lichtpunkte zu verdichten. Die trüben Lichter sahen aus wie Sterne durch Nebel. Anfangs war Maerad erstaunt: Gewiss waren sie nicht nur wie Sternenlicht, sondern Sternenlicht selbst, oder? Steckte sie voller geheimer Konstellationen? Dann stieg ein anderes Gefühl in ihr auf, eine flüssig strahlende Wahrnehmung, völlig anders als ihre gewöhnlichen sechs Sinne, wenngleich auch diese verschwommen wirkte wie ein Lied, das sie innig kannte, das sich jedoch ihrem Erkennen entzog, weil es unterhalb ihres Hörvermögens erklang. Oder vielleicht wie ein Bild, das sie nicht ganz sehen konnte, ein
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