Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
nicht. »Es mag sich nicht unbedingt vernünftig anhören«, meinte er, »dennoch glaube ich nicht, dass deine Worte Unsinn sind, Maerad von Pellinor.«
Cadvan bestand darauf, dass Maerad sich auf den Versuch vorbereitete, wenngleich er sagte, dass sie vermutlich am besten spüren würde, was sie tun sollte. Er beschloss, einen Glimmerschleier um ihr Lager zu legen, falls das Freisetzen von Magie unerwünschte Aufmerksamkeit erregen sollte, wenngleich er insgeheim dachte, dass kein Bann, den er zu weben vermochte, in der Lage sein würde, Maerads volle Macht zu umschließen oder zu verhüllen, sollte es ihr gelingen, sie zu entfesseln.
Maerad überlegte kurz, dann wusch sie sich Gesicht und Hände in Regenwasser, das sich in einer Pfütze in der Nähe gesammelt hatte. Dabei erinnerte sie sich lebhaft an die Vorbereitungen für ihr Treffen mit Inka-Reb, den mächtigen Dhillarearean im hohen Norden, zu dem sie mit ihrem Vetter Dharin auf der Suche nach dem Baumlied gereist war. Seither hatte sie kaum an Inka-Reb gedacht; ihr Leben war von so vielen anderen Dingen erfüllt und jene Begegnung seltsam und beunruhigend gewesen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie deutlich seine massige, riesige Gestalt vor sich, beschmiert mit Asche und Fett, am Feuer in seiner Höhle hocken, und sie erinnerte sich an die Wölfe, die ihn umgaben -dieselben Wölfe, die sie später als eine der ihren aufgenommen hatten. Inka-Reb besaß eine innere Macht, die ihr Ehrfurcht eingeflößt hatte, Wenn ihr jemand beibringen konnte, ihre Gabe voll zu entfalten, dann vermutlich er; doch selbst wenn sie sich erneut auf den weiten Weg in den Norden begeben würde, vermutete sie, dass er sich wahrscheinlich weigern würde. Insofern war sie auf sich allein gestellt. Allerdings glaubte sie, dass Inka-Reb nicht missbilligen würde, was sie zu tun versuchte, zumal er sowohl die Finsternis als auch das Licht verachtete.
Als sie von ihrer Säuberung zurückkehrte, schlug sie vor, dass Cadvan und sie ihre Leiern hervorholen sollten, die seit Inneil unangetastet in ihren Bündeln ruhten. Überrascht sah er sie an, packte seine Leier jedoch ohne weitere Worte aus. Maerad hielt ihre in der Armbeuge und betrachtete nachdenklich die unergründlichen Runen, die das schlichte Holz zierten. Mittlerweile wusste sie, was sie darstellten: Es waren die Runen des Baumlieds, dessen Macht vom großen Barden Nelsor von Afinnil in den Tagen der Dhyllin gebannt und niedergeschrieben worden war. Allerdings hatte sie immer noch keine Ahnung, wie sie die Runen zum Singen bringen und den Elidhu zurückgeben konnte.
»Ich dachte«, setzte Maerad an und räusperte sich. »Ich dachte, wir könnten >Das Lied des Erschaffens< singen.«
Cadvan wirkte erfreut, erwiderte aber nur: »Dein Wunsch ist mir Befehl.« Maerad fühlte sich unerklärlicherweise beunruhigt, als träte sie vor einer Halle argwöhnischer Barden statt vor der verwaisten Wildnis auf. Sie hielt die Leier in den Händen und ließ die Magie in sich aufsteigen, bis sie von einem Lichtschein umgeben und ihre linke Hand wieder vollständig war. Dann nickte sie Cadvan zu und schlug die Eröffnungsakkorde an. Harmonisch sangen sie zusammen, erfüllten Cadvans Bariton und Maerads reine, heisere Stimme ihren Unterschlupf, und Maerad spürte, wie sich alle Anspannung und alle Sorgen in der schieren Schönheit der Musik hinforthoben und auflösten.
Im Anfang war das Dunkel, und die Finsternis
War ganz Masse und ganz Maß, doch ohne zu fühlen,
Und die Finsternis war ganz Farben und ganz Formen, doch ohne zu sehen,
Und die Finsternis war ganz Musik und ganz Klang, doch ohne zu hören,
Und sie war ganz Duft und ganz Geschmack, sauer und bitter und süß,
Doch sie erkannte sich nicht.
Und die Finsternis dachte, und sie dachte ohne Geist,
Und der Gedanke wurde Geist, und der Geist belebte sich,
Und der Geist ward Licht, ward das Licht in Finsternis,
Und wohin Licht fiel, da war Schatten,
Und der Schatten regte sich, und ein dunkles Auge tat sich auf…
Das war das erste Lied, das zu singen Maerad bei ihren einen ganzen Tag dauernden Vorbereitungen für das Treffen mit Inka-Reb beschlossen hatte. Es war ihr beigebracht worden, als sie noch ein Kind gewesen war, und im vergangenen Jahr hatte sie es viele Male gehört; und jedes Mal, wenn sie es hörte, zeigte es ihr neue, verschlungenere Bedeutungen auf. Als sie die ersten Strophen sang, fiel ihr auf, wie sehr es in Einklang mit ihren jüngsten Gedanken stand.
Weitere Kostenlose Bücher