Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
hörte die langsame Verschiebung im Erdgestein, den raschen Herzschlag von Vögeln. Plötzlich nahm sie Cadvans sture, aufmerksame Gegenwart wahr, seine Gedanken allein auf sie gerichtet, und sie erkannte, dass er sie seit Stunden beobachtete, dass die Sonne längst untergegangen war. Es herrschte tiefe Nacht unter einem klaren, mondlosen Himmel, an dem es von endlosen Sternen wimmelte.
Maerad weitete das Feld ihrer Wahrnehmung, und ihr Wesen füllte sich mit Bewusstsein. Sie hörte widerhallende Stimmen, viele Stimmen, Rufe, Flüstern, Geheul, und sie spürte vage Erscheinungen, umrissen von zielloser Helligkeit. Ohne darüber nachzudenken, wusste sie, dass dies die Toten im Hohlen Land waren, das leise Gemurmel ihrer Stimmen, das sich über unzählige Jahre spannte, die Wärme ihrer Hände, die immer noch in den Steinen pulsierte, die sie aufgestellt hatten, in den Gräbern, die sie unter den Steinen ausgehoben hatten. Maerad fasste weiter um sich, neugierig und beflügelt von diesem neuen Sinn, und sie spürte die finstere Gegenwart von Untoten, nicht weit entfernt, nicht nah, und sie wusste, dass sie fragend die Köpfe erhoben hatten, sich ihre Nasenflügel blähten, als der Geruch der Macht kurz ihre Geister berührte. Zum ersten Mal fürchtete Maerad sie nicht; stattdessen regte sich Verachtung in den Tiefen ihres Wesens. Sie waren nichts, bloße Rauchschwaden im Wind.
Maerad jagte weiter, lernte unterwegs, verfeinerte und lenkte ihren neuen Sinn. Durch die Anordnung ihrer inneren Sterne wusste sie, dass sie südwärts vorstieß, über das aufgeweichte Tiefland. Sie hörte und spürte die Stimmen derer, die ertrunken waren, den Kummer der Heimatlosen, das panische Muhen von Rindern, die durchdringende Angst von Ziegen und Schafen, das gefiederte Grauen von Vögeln, die schleichenden Qualen von Bäumen. Benommen und verwirrt vom chaotischen Gemurmel der Erscheinungen hielt sie inne. Sie war nicht mehr sicher, was die Gegenwart bedeutete; die Stimmen stammten aus ihr, doch sie konnte auch in die jüngere Vergangenheit hören und darüber hinaus; leisere Stimmen stiegen durch die Jahre auf, durch Jahrzehnte und Jahrhunderte, reichten zurück in eine Zeit, die sie kaum zu begreifen vermochte.
In all den Wirren suchte sie ein bestimmtes Licht, einen bestimmten Geruch, eine bestimmte Stimme, eine bestimmte Zeit: jetzt. Ein Wort bildete sich in ihrem Geist, ein Wort der Hohen Sprache, und es hing vor ihr wie silbriges Feuer, etwas vollkommen Klares in dieser Welt aus wechselnden Schatten und Licht; all ihr Sehnen floss in das Wort, wodurch es zu einem unerträglich grellen Gleißen anschwoll. Bilk. Krähe. Die Silberflamme durchströmte sie und wurde eine Stimme; Maerad suchte durch das Tiefland, durch all die Stimmen, all die Toten, all die Lebenden, und sie fand denjenigen, dessen wahrer Name es war, denjenigen, der seinen Namen wie feurige Glocken durch sein Blut strömen spüren würde gleich der Stimme von Sternenlicht. Rük, sagte sie. Riik, mein Bruder. Komm zu mir.
Mehrere Wegstunden entfernt, in einer Hirtenhütte auf einem dunklen Hügel, erwachte Hem ruckartig aus den namenlosen Tiefen des Schlafes, rappelte sich auf die Beine und sah sich mit wirrem Blick um. »Maerad!«, stieß er hervor und stolperte zur niedrigen Tür der Hütte hinaus. »Maerad?« Dann stieg sein Erdgespür in ihm auf, ein Hunger, der mit solcher Kraft an ihm zerrte, dass er sich vor Schmerz beinah krümmte.
Komm zu mir, wiederholte Maerad.
Mit einer Enttäuschung, die ihn beinah so schmerzlich traf wie sein Erdgespür, erkannte Hem, dass Maerad nicht hier war. Aber die Kraft ihres Rufes war so stark gewesen, dass er den Weg zu ihr nachgerade zu sehen vermeinte wie einen schimmernden Pfad aus Silber durch die Dunkelheit. Es war, als wäre Maerad der Mond, der über einer ruhigen See aufging, und der Pfad zu ihr glich einer Straße weißer Wellen, die von Hems Füßen aus Richtung Norden rollten.
Ich komme zu dir!, rief er, doch der Ruf hatte ihn aus seinem Bann freigegeben, und er wusste nicht, ob sie seine Antwort hörte. Maerad, ich komme.
Neues von Untoten
Schwach vor Schreck über das, was soeben geschehen war, setzte Hem sich ins taufeuchte Gras und starrte nordwärts über die schattigen Hügel, die sich dunkel vor dem sternengesprenkelten Himmel abzeichneten und die nun leerer denn je zuvor schienen.
Maerad. Er war so sicher gewesen, dass sie sich vor der Hütte befand und ihn rief; er hätte schwören
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