Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
können, dass er sie riechen konnte, einen leichten, süßen Duft in der Nachtluft. Der Junge wischte sich die Augen am Ärmel ab und ordnete seine Gedanken. Der schillernde Pfad, den er gesehen hatte, war mittlerweile verblasst, seine Anziehungskraft jedoch noch lebhaft zu spüren. Zumindest wusste Hem genau, wohin er gehen musste. Seine erste Eingebung bestand darin, in die Hütte zurückzukehren, Saliman zu wecken und unverzüglich aufzubrechen, doch er dachte noch einmal darüber nach und beschloss, bis zum nächsten Morgen zu warten.
Er schaute zu den Sternen auf und suchte nach Illion, dem Stern des Sonnenaufgangs: Er stand bereits tief am westlichen Horizont. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich der Himmel zur Morgendämmerung hin aufzuhellen begann. Hem schauderte. Es hatte wenig Sinn, sich noch einmal schlafen zu legen. Stattdessen kehrte er in die Hütte zurück, blies auf die Glut des gedämpften Feuers und lockte mit zitternden Händen eine kleine Flamme auf trockenes Holz. Irc regte sich verschlafen auf Hems Bündel, wo er kauerte, und krächzte leise klagend darüber, gestört worden zu sein, ehe er sofort wieder einschlief. Hem hütete das Feuer, bis seine Hände zu zittern aufhörten. Es war zweifellos Maerad gewesen, die ihn gerufen hatte, aber er hatte noch nie einen so mächtigen Ruf gespürt. Und sie hatte ihn mit seinem wahren Namen gerufen. Riik. Krähe. Er schaute zu Irc und hätte beinah laut aufgelacht. Natürlich war das sein wahrer Name; schließlich nannten ihn alle so. Lios-Hlaf, die Weiße Krähe, war in Turbansk sein Spitzname gewesen. Aber woher kannte Maerad ihn? Hem war noch nicht als Barde eingeführt worden und besaß noch keinen wahren Namen. Hatte vielleicht Maerad ihn irgendwie zum Barden gemacht? Oder konnte man womöglich auch einen wahren Bardennamen besitzen, ohne ordentlich eingeführt worden zu sein? Er würde Saliman fragen müssen.
Der dunkelhäutige Barde schlief an der gegenüber liegenden Wand der Hütte, eingehüllt in seinen Mantel und eine Decke. Unter dem Knistern des Feuers konnte Hem seinen gleichmäßigen Atem hören. Saliman war von der weißen Krankheit befreit, doch Hem war entsetzt, wie geschwächt sein Freund war. Dabei hatte er ihn noch in den frühen Abschnitten der Krankheit geheilt. Wäre sie weiter fortgeschritten gewesen, wären die Aussichten auf Erfolg wahrhaft gering gewesen, das wusste Hem mittlerweile. Wenn er nun auf das Wagnis zurückblickte, das er eingegangen war, wurde ihm kalt. Saliman hatte recht gehabt: Es war Wahnsinn gleichgekommen, auch nur den Versuch zu wagen. Es hatte all seiner Kräfte bedurft, die er besaß, und weiterer, von denen er nicht einmal geahnt hatte.
Nach jenem letzten schrecklichen Augenblick, in dem er Salimans Namen gerufen hatte und über seinem Körper zusammengebrochen war, hatte er bis spät am folgenden Tag ohnmächtig dagelegen. Als er letztlich die Augen aufschlug, hatte ihn das sanfte, rote Licht der sinkenden Sonne, das zur Tür der Hütte hereinschien, begrüßt. Zuerst hatte er nicht gewusst, wo er sich befand. Er verspürte überwältigenden Durst, und sein Körper schmerzte vom Scheitel bis zu den Fußspitzen, als hätte er am ganzen Leib eine Tracht Prügel erhalten. Stöhnend hielt er sich den Kopf und setzte sich auf.
Saliman saß neben ihm und rührte einen Eintopf um, der hervorragend roch. Als er hörte, dass Hem sich bewegte, drehte er sich um. »Tut mir leid wegen des Rauchs hier drin«, sagte er, »aber ich habe noch nicht die Kraft, vor der Tür ein neues Feuer anzuzünden. Im Augenblick scheinen Essen und Wärme wichtiger zu sein.«
Hem starrte Saliman an, während die Erinnerung allmählich zurückkehrte. »Du lebst«, stieß er hervor. Seine Stimme war heiser vor Trockenheit, und Saliman reichte ihm wortlos seine Wasserflasche. Hem trank einen ausgiebigen Schluck und wischte sich die Lippen ab. Noch nie hatte schlichtes Wasser so süß geschmeckt.
»Ja«, bestätigte Saliman schließlich. »Ich habe mich in sämtliche Arme und Beine gekniffen, sogar in die Nase, und ich träume nicht. Entgegen jeder Hoffnung bin ich immer noch am Leben. Etwas mitgenommen zwar, aber ich beklage mich nicht. Ich kann nur froh sein, dass du mir so stur nicht gehorcht hast. Ich verdanke dir mein Leben.«
»Ich dachte, du würdest sterben«, sagte Hem. Er wollte schreien, singen, vor Freude tanzend durch die Hügel springen, aber er schien außerstande zu sein, etwas anderes zu tun, als
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