Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
schon so oft in ihrem Leben getan hatte. Ilion, der Morgenstern, war längst über den Horizont gestiegen, und das helle Funkeln des Lukemoi, des Pfades der Toten, spannte sich über den Himmel. Die Sterne spendeten ihr keine Wärme. Ein leichter Wind strich ihr das Haar zurück und trocknete den Schweiß in ihrem Gesicht. Maerad schauderte, als sie daran dachte, dass diese Sterne die Brücke zwischen dieser Welt und den Toren darstellten, hinter denen - was lag? Niemand, nicht einmal Ardina, vermochte diese Frage zu beantworten. Maerad glaubte mittlerweile, dass die Toten nicht durch die Haine der Sterne wanderten, wie die Barden sangen. Nein, die Tore öffneten sich und offenbarten Finsternis, und die tote Seele trat in jene Finsternis hinein und war für immer verloren. Sie stellte sich vor, wie sie jenem hohen Pfad folgte, weit über den Unbilden der Erde jenseits des Schweißes, des Drecks, des Kummers eines menschlichen Daseins; wie ihr Leben ohne Bedauern aus ihren offenen Händen glitt, samt all seiner Freuden, Hochgefühle und Niederlagen Ja, die Toten mochten sich durchaus glücklich und leichten Herzens von der Last entfernen, die mit dem Leben einherging.
Aber wenn die Toten hinaus in die Dunkelheit treten und die Welt hinter sich lassen, wessen Stimmen sind es dann, die ich ständig höre? Es sind jedenfalls nicht die Stimmen der Lebenden, dachte sie.
Sie umklammerte den Kopf mit den Händen; ihre Stirn brannte und schmerzte, aber ihre Haut fühlte sich kalt wie Eis an. Ich war zu sehr außerhalb dieser Welt, dachte sie. Und jetzt habe ich Angst. Etwas ist geschehen …
Als Maerad sich aus ihrer Trance gelöst hatte, war es kurz vor Sonnenaufgang gewesen. Verwundert hatte sie um sich geblickt und die saubere, kalte Luft gerochen, die in ihrer Nase brannte und auf ihren Wangen prickelte. Aus den Mulden und Senken kräuselte sich ein dichter Bodennebel empor, der im ersten Licht sehr weiß wirkte.
Cadvan stand mit dem Rücken zu ihr und starrte nach Osten auf die fahlen Anzeichen der Morgendämmerung, die Helligkeit auf die fernen, wolkenverhangenen Gipfel des Osidh Elanor zauberte. Als er sich zu ihr umdrehte, sah sie, dass er äußerst blass war, und seine Augen funkelten, als er sie betrachtete, vor Argwohn, Angst oder einer anderen Gefühlsregung, die sie nicht zu erahnen vermochte. Er erkundigte sich, ob sie Hem gefunden hätte, und Maerad nickte.
»Gut«, sagte er. »Dann denke ich, dass wir diesen Ort verlassen sollten. Ich würde mein Leben darauf wetten, dass jeder Untote in Nord-Annar in diesem Augenblick in Richtung des Hohlen Landes galoppiert und es nicht lange dauern wird, bis der Namenlose selbst erfährt, dass du hier bist; das heißt, sofern er es nicht bereits weiß. Du hättest ebenso gut ein Leuchtfeuer anzünden können, Maerad. Jeder im Umkreis von mehreren Wegstunden mit auch nur dem geringsten Hauch der Gabe, bis hinunter zur einfachsten Dorfhebamme, wird dich gespürt haben und wissen, dass du hier bist.«
Maerad begegnete seinem Blick und erkannte, dass er die Wahrheit sagte. Sie schürzte die Lippen. »Untote?«, meinte sie und schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. »Was ist mit ihnen?«
Cadvans Züge verfinsterten sich, als hätte sie ihre Verachtung ebenso sehr gegen ihn wie gegen sie gerichtet. »Ich mag keine Untoten«, erwiderte er. »Insbesondere missfällt mir die Vorstellung von vielen Untoten, die in unsere Richtung reiten, während wir mitten im Nichts ohne jegliche Mittel zur Verteidigung lagern.« »Ich fürchte mich nicht vor Untoten«, gab Maerad zurück. »Ich gehe nirgendwohin. Hem kommt hierher und ist bereits auf dem Weg. Ich bleibe und warte auf ihn.« »Gewiss könnte Hem dich spüren, wo immer du dich aufhältst«, sagte Cadvan. »Und wenn uns schon Untote, Werwesen oder sonstige Diener der Finsternis einen Besuch abstatten, hätte ich dabei lieber Mauern um mich.«
»Was für Mauern?«, fragte Maerad.
»Ich dachte, wir könnten nach Inneil reiten«, antwortete Cadvan und warf ihr einen Seitenblick zu.
»Dort wären wir nicht sicherer als hier«, entgegnete Maerad. »Und in jedem Fall bist du bei mir wahrscheinlich sicherer als bei jedem anderen Menschen in EdilAmarandh.« Sie lächelte, begegnete Cadvans Blick und sah, wie er zurückschrak, als hätte er etwas erspäht, das ihm vor Grauen die Nackenhaare aufrichtete. »Maerad«, sagte er so leise, dass sie sich vorbeugen musste, um seine Stimme über dem Geräusch des Windes zu hören, der
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