Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
kurzen Leben schon einigen der größten Barden von Edil-Amarandh begegnet.
»Das freut mich«, meinte Marajan. »Ich sehe die Male tiefer Wunden in dir, dazu Kummer, den du in deinen jungen Jahren noch nicht erlebt haben solltest. Du bist auf einem dunklen Pfad gewandelt, und ich fürchte, er wird noch dunkler. Wenn ich könnte, junger Heiler, würde ich dich zu bleiben heißen, bis all dein Ungemach verheilt ist. Aber leider kann ich das nicht verlangen. Du gehörst in deine eigene Zeit und kannst nicht sehr lange aus dem Strom der Jahre treten. Selbst hier kannst du nur einen Tag und eine Nacht verweilen.«
Verwundert starrte Hem sie an. »Wer bist du?«, sprudelte er hervor. »Bist du eine Bardin? Ich meine …« Er geriet ins Stocken und errötete ob des Gefühls, dass er unhöflich gewesen war.
»Ich bin eine Bardin, ja. Aber nicht ganz wie andere Barden, was wohl auf dich ebenso zutrifft.« Eine Zeit lang schwieg sie und blickte über die Felder. »Ich habe dich in Träumen gesehen, Hem, und auch deine Schwester. Vielleicht habe ich diesen Platz hier für euch geschaffen, weil ich wusste, dass ihr eine Zuflucht brauchen würdet, wenn sich die Finsternis über Annar ausbreitet.« Erstaunt musterte Hem sie. Marajan lächelte wieder, und Hem nahm eine in ihre Schönheit eingewobene Traurigkeit wahr, die ihren strahlenden Glanz betonte wie die hereinbrechende Nacht die Farben des Zwielichts. »Überraschend wäre es nicht. Ich bin die Schwester der Mutter eurer Mutter. Das Elementar-Blut ist in Pellinor stark vertreten, und manche von uns erhalten die Gabe, Visionen zu empfangen, was ebenso sehr ein Fluch wie ein Segen sein kann. In deiner Zeit habe ich die Tore des Todes bereits durchschritten, und ich empfinde es als wahres Geschenk, dich sehen zu dürfen, so kurz diese Begegnung auch bleiben muss… Aber komm, es ist fast Zeit zum Abendessen, und wir haben noch viel zu besprechen, bevor ihr in eure Zeit zurückkehren müsst. Und ich möchte keinesfalls, dass der Braten anbrennt.«
Mit wirbelnden Gedanken folgte Hem der Bardin ins Haus: Marajan war die Schwester seiner Großmutter? Ein plötzliches Gefühl des Verlusts beschlich ihn bei der Vorstellung, dass sie in seiner Zeit bereits tot war. Dabei wirkte sie alles andere als geisterhaft, sondern vielmehr wie einer der lebendigsten Menschen, die er je kennen gelernt hatte. Er fragte sich, ob Saliman wusste, dass sie dem Haus Karn entstammte und über Elementarkräfte verfügte; gewiss hatte ihre Elementargabe es ihr ermöglicht, ein Tor durch die Zeit zu erschaffen.
Nach einem entspannten und heiteren Abendessen redeten sie bis spät in die Nacht. Grigar erzählte ihnen, dass er zu einer Gruppe von Barden gehörte, die im Geheimen gegen den Namenlosen in Annar arbeiteten. Ihr Netzwerk reichte weit; es erstreckte sich von Suderain bis Lirigon und umfasste alle Sieben Königreiche. Auch mit Hared in Nal-Ak-Burat standen sie in Verbindung, wenngleich Grigar meinte, dass es von Tag zu Tag schwieriger wurde, sich auszutauschen. »Annar wird mehr und mehr zu einem Kerker«, meinte er. »Ihr könnt von Glück reden, dass ihr auf der Weststraße keinen Schwierigkeiten begegnet seid; offen gesagt, überrascht es mich. Fast überall herrscht Bürgerkrieg. Der verräterische Enkir hat den von ihm als solche bezeichneten aufrührerischen Schulen den Krieg erklärt und zieht in diesem Augenblick gegen Eledh ins Feld. In Arnocen und II Arunedh weiß man, dass man als Nächste an der Reihe sein wird, und bereitet sich auf den Krieg vor. Die Schwarze Armee belagert derzeit Til Amon, und wenn die Stadt fällt, steht Enkir und dem Namenlosen ganz Lanorial offen. In Lirion und Culain hat man das Heer einberufen.«
»Du malst ein trostloses Bild, mein Freund«, stellte Saliman fest.
»Ja«, bestätigte Grigar. »Und ich fürchte, es wird bald noch trostloser. Wir werden überall zurückgeschlagen, sei es durch List und Tücke, Verrat oder Waffen. Die einzige gute Neuigkeit ist der Sieg in Inneil: Ich habe gehört, die Schule habe einen wilden Angriff aus den Bergen abgewehrt, und zwar durch die Ankunft einer großen Magierin, die den Landrost zerstört haben soll. Sie wird als die Maid von Inneil bezeichnet, ein einfaches Mädchen, zumindest erzählt man sich das. Ich finde das schwer zu glauben; aber nach allem, was ich erfahren habe, ist der Sieg wahrhaftig.«
»Maerad!«, rief Hem aufgeregt aus. »Es muss Maerad sein!« »Diesen Namen habe ich nicht gehört«, sagte
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