Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
einem blutigen Rot, von einem üppigen Gelb zu einem zarten Blaugrau. Sie hatte beobachtet, wie sich helle Flechten über ihre bröckelnden Oberflächen ausgebreitet hatten. Sie war in den milden Tagen des Sommers dabei gewesen, wenn wilde Bienen im blühenden Heidekraut ihr einlullendes Lied summten, und in den unzähligen Wintern, in denen gefrierender Regen die Äderungen der Steine mit Eis füllte und sie aufbrach. Sie glich beinah selbst einem Fels.
Wenn solche Anfälle sie erfassten, schwieg sie oft mehrere Stunden lang, und wenn Cadvan dabei zu ihr sprach, hörte sie ihn nicht. Dennoch war sie nicht abwesend, sondern gegenwärtiger, als sie sich je zuvor gefühlt hatte. Irgendetwas rüttelte sie stets aus diesem Zustand wach - Keru, die herbeikam und sie stupste, weil sie Gesellschaft wollte, oder Cadvan, der ihre Hand in dem Versuch berührte, sie aus einem Zauber zu erwecken, den er nicht verstand, und Maerad zuckte darauf zusammen, als wäre sie überrascht, und lächelte. Danach versuchte sie jedes Mal, in den gewöhnlichen Lauf der Dinge zurückzufinden, indem sie sich eine Aufgabe suchte: Sie striegelte Keru oder Darsor, bis ihre Felle glänzten, flickte jeden noch so kleinen Riss in ihren Kleidern, polierte ihre Stiefel oder sammelte Feuerholz.
Die Träume hatten am Tag nach dem Ruf eingesetzt. Es war, als wäre eine Mauer in ihrem Geist gerissen, und durch jenen Riss hörte sie die Stimmen der Toten. Je gewahrer sie ihrer wurde, desto breiter schien der Sprung zu werden. Sie hatte das Gefühl, allmählich von diesen verirrten Stimmen ausgefüllt zu werden, als sickerten sie durch ein Leck in ihr Bewusstsein. Jede Nacht schien sie tiefer in ein Traumland zu wandern, in dem sie sich nicht zurechtfinden konnte. Als das Aufbranden der Macht aus ihrem Wesen abfloss, war auch ihre Furchtlosigkeit verebbt. Wenngleich sie es Cadvan gegenüber nicht zugab, fühlte sie sich nun klein und verwundbar, und sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Magie, wollte sie nicht einsetzen, nicht einmal, um neuerlich Verbindung zu Hem aufzunehmen. Cadvan spürte ihre Zerbrechlichkeit und behandelte sie sanft. Wenngleich er sich angespannt fragte, ob Hem tatsächlich unterwegs zu ihnen war, drängte er sie nicht zu dem Versuch, eine Gedankenverbindung zu ihm herzustellen oder ihre Kräfte in irgendeiner Form anzuwenden. Stattdessen beobachtete er, wie sie am Rand des Lagers saß und nach Westen starrte, als könnte Hem sich jeden Augenblick vom fernen Horizont lösen, und Cadvans Züge wurden dabei oft von Sorge und Mitleid überschattet.
Dieser seltsame Augenblick des freien Schwebens, als die Zeit stillzustehen schien, kam Cadvan vor wie ein langsames Luftholen vor einem unvorstellbaren Kampf. Er wusste nicht, was er erwarten sollte, und hatte keine Ahnung, ob er eine gute Entscheidung getroffen oder den schrecklichsten Fehler seines Lebens begangen hatte. Er wusste nur, dass er keine andere Wahl hätte treffen können. Zum ersten Mal, seit Maerad ihn kannte, hatte er seine harte Selbstbeurteilung beiseite gedrängt, und aus seinen Zügen sprach ein Friede, der zuvor nicht darin gelegen hatte. Wenngleich sich ein wenig Traurigkeit darunter gemischt haben mochte, fiel Maerad auf, dass Cadvan unbeschwerter denn je zuvor wirkte, und sie wandte sich dieser Unbeschwertheit zu wie eine Blume, die ihr Antlitz der Sonne zukehrt, und versuchte, die Schatten nicht zu sehen, die sich hinter ihr ballten.
Inzwischen waren acht Tage verstrichen, seit Maerad Hem gerufen hatte. Sie und Cadvan hatten über jene Nacht kein Wort verloren. Es lag nicht daran, dass jeder von ihnen das Thema zu meiden suchte, sondern eher, dass keiner der beiden es in Worte zu fassen vermochte, und sie spürten insgeheim, dass darüber zu reden, ohne in der Lage zu sein, präzise das auszudrücken, was sie meinten, irgendwie gefährlich sei.
Bei Sonnenuntergang des achten Tages sah sie, wie zwei Reiter den langen Anstieg zu ihrem Lager von Westen aus erklommen. Sie hatte den ganzen Tag auf einem niedrigen flachen Stein gehockt; in einem Dämmerzustand verloren, hatte sie der sich unter ihren Füßen regenden Erde gelauscht, die zum Frühling hin erwachte, die Augen stetig auf den Horizont geheftet. Häufig spielte sie auf ihrer Leier, während sie Ausschau hielt; auch nun hielt sie das Instrument auf dem Schoß und strich mit der verstümmelten Hand müßig über die Saiten. Wenngleich sie keine bestimmte Melodie spielte, beruhigte sie der stete, sanfte
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