Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
sie auf, bevor sie fallen konnte, und ließ sie behutsam zu Boden gleiten. Dann sah sie, dass ein inneres Leuchten ihre Leier erhellte, ein Glühen, das an das üppige, mannigfaltige Licht eines Sommertages erinnerte.
Sie ergriff die Leier und umklammerte sie wie ein Ertrinkender einen treibenden Baumstamm. Sogleich fühlte das Dröhnen sich nicht annähernd so unerträglich an; es wurde zu einem leisen Summen, das zwar immer noch durch ihren Leib pulsierte, als wäre sie selbst ein Instrument, sie jedoch nicht mehr verletzte. Ihre Panik legte sich, und sie erkannte, dass auch die Leier in Schwingung war und das Summen aus dem Instrument stammte. Während sie darauf starrte, schwoll das Licht an, bis die Leier in ihren Händen grell gleißte.
»Was geht hier vor sich?«, fragte Cadvan. Er hatte das Schwert gezogen und leuchtete selbst vor abgeschirmter Magie.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Maerad und schaute zu ihm auf. »So etwas hat die Leier noch nie gemacht. Vielleicht erwacht sie. Sieh nur - die Runen …« Die Runen des Baumlieds brannten, als wäre in das helle Holz ein rubinrotes Feuer eingelegt. Einen Augenblick vergaßen beide alles außer der Leier und starrten erstaunt darauf.
»Das ist wunderschön«, stieß Maerad bewundernd hervor. »Ich habe noch nie etwas so Wunderschönes gesehen …«
Bereits kurz nach ihrem Kennenlernen hatte Cadvan ihr gesagt, dass die Leier kein gewöhnliches Instrument darstellte. Sie war Dhyllisches Gewerk, gefertigt in Afinnil mit einem magischen Geschick, das mittlerweile längst in Vergessenheit geraten war. Und Inka-Reb, der Weise im Norden, hatte sie ausgelacht, weil sie nicht gewusst hatte, dass jenes Baumlied, das zu finden sie durch ganz EdilAmarandh gereist war, darauf geschrieben stand. Der Winterkönig hatte ihr die Bedeutung der Runen offenbart und ihr mitgeteilt, dass die Leier in Afinnil von Nelsor persönlich hergestellt worden war, einem der größten Barden überhaupt. All das hatte Maerad gewusst, dennoch war es für sie immer noch die Leier, die ihre Mutter ihr geschenkt hatte, eine bescheidene Begleiterin ihrer einsamen Kindheit. Nun begann sie zum wohl ersten Mal zu verstehen, was das Instrument wirklich war.
»Geht es dir jetzt besser?«, fragte Cadvan und löste die Augen von der lodernden Leier.
Maerad nickte.
»Denn diese Reiter werden bald hier sein. Und ich kann trotz allen Bemühens immer noch nicht feststellen, was das für Leute sind. Für mich sieht es so aus, als säßen auf dem Rücken eines der Pferde zwei Menschen… Und ich denke, wenn sich Untote in der Nähe aufhalten, werden sie ebenfalls die Ohren spitzen und hierher eilen.«
Abermals nickte Maerad. Nun, da sie den Strom der Magie in sich wieder zugelassen hatte, fragte sie sich, weshalb sie sich die vergangene Woche so sehr davor gefürchtet hatte. Es war, als hätte sie mit den Händen vor dem Gesicht in einem kleinen Loch gekauert und sich geweigert, zum über ihr strahlenden Sonnenlicht aufzuschauen.
»Tut mir leid wegen vorhin«, sagte sie und sah Cadvan an. »Ich versuche jetzt, mit Hem zu sprechen.«
Sie starrte auf die fernen Reiter. Inzwischen befanden sie sich näher, und sie stellte fest, dass Cadvan recht hatte: Ein Pferd trug zwei Reiter. Sie senkte den Kopf und bündelte ihr Bewusstsein.
Hem, sagte sie. Bist du da?
Maerad?, antwortete Hem sofort, und die blanke Freude in seiner Stimme trieb ihr Tränen in die Augen. Wir sind schon ganz in der Nähe, oder?
Ja, seid ihr. Wir können euch sehen. Von Gefühlen überwältigt, konnte Maerad einen Augenblick nicht mehr weitersprechen. Oh Hem… Ich habe dich so sehr vermisst… Ich dachte schon, ich würde dich vielleicht nie wieder sehen.
Aber hier sind wir! Maerad konnte hören, dass Hem vor schierer Freude lachte. Wir können euch noch nicht sehen, aber inzwischen spürt dich sogar Saliman. Wir glauben, dass Untote in der Nähe sind. Wir wissen nicht, wo, aber sie werden zweifellos in unsere Pachtung reiten.
Saliman ? Saliman ist bei dir?
Ja. Und Hekibel. Und Irc. Freunde. Wir haben einen so weiten Weg zurückgelegt, um dich zu finden! Aber Maerad, es geht etwas wirklich Seltsames vor sich. Ich habe da eine Stimmgabel, und sie gibt ein unglaubliches Summen von sich; ich denke, das Baumlied beginnt, etwas zu tun - ich weiß nicht, was. Ich kann dich über den Lärm kaum hören.
Hier geschieht es auch, erwiderte Maerad. Meine Leier schillert lichterloh. Es muss das Baumlied sein. Ich habe die andere
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