Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
zuletzt gesehen hatte. »Til Amon ist von allen Schulen die schönste«, meinte er eines Nachts zu Hem, als sie sich zum Wärmen in ihre dürftigen Decken wickelten, nachdem sie entschieden hatten, kein Feuer zu entfachen.
»Nicht unangefochten«, warf Saliman ein. Hem hörte das Lächeln in Salimans Stimme. »Hast du je II Arunedh bereist, den Berg der Rosen?«
»Ja, ja. Und vergiss nicht, ich habe viele Jahre in Turbansk gelebt und zählte den Ort zu den schönsten Städten, die ich je gesehen habe.« Kurz setzte er ab und sah vermutlich vor seinem geistigen Auge den Untergang der Pracht Turbansks. »Aber Schönheit, Saliman, liegt sowohl im Herzen als auch im Auge, und meine Liebe wird ewig Til Amon gelten.«
»Über Liebe lässt sich nicht streiten«, räumte Saliman ernst ein.
»Trotzdem musst du mir beipflichten, dass Til Amon, was die natürliche Schönheit ringsum angeht, unübertroffen ist. Die Stadt, Hem, liegt an den Ufern des Sees von Til Amon, und ihre Türme ragen hoch über das Wasser auf. An windstillen Tagen spiegelt sich die Stadt im See und wogt zu ihren eigenen Füßen. Von den Mauern aus erstrecken sich die saftigen Weiden von Amon samt Obstgärten, Hainen, Weinbergen und Feldern, von denen einige der edelsten Früchte und erlesensten Weine in ganz Edil-Amarandh stammen. Hem, die Gegend dort ist der Traum jedes Koches… Und jenseits des Sees erhebt sich majestätisch und hoch der Osidh Am.
»Das ist ein herrliches Gebirge«, meinte Hem. »Saliman und ich sind auf dem Weg nach Turbansk hindurchgeritten.«
»Das muss etwas südlich von uns gewesen sein«, erwiderte Soron. »Hier sind die Berge höher, rauer und nicht so einfach zu überqueren! Aber an einem klaren Morgen in Til Amon zu erwachen und die weiß gekrönten Gipfel vor sich zu sehen, die im blauen See erzittern - ah, das ist ein Anblick, der einem den Atem verschlägt.«
»Warum bist du von dort weggegangen?« Hem rollte sich herum, weil er Soron ins Gesicht blicken wollte, doch es lag in der Dunkelheit verborgen.
»Warum ich dort weggegangen bin? Anfangs wollte ich lernen, wie man in Suderain kocht. Es gab vieles, was ich erfahren wollte. Und dann wurde ich Oberster Koch der Schule. So bin ich denn irgendwie in Turbansk geblieben. Ich fand dort viele Freunde und lernte die Stadt lieben. Was du gewiss verstehen wirst, Hem, schließlich gab es viel daran zu lieben. Erst nach einer Weile wurde mir klar, dass etliche Jahre ins Land gezogen waren, ohne dass ich es bemerkt hatte. Trotzdem bleibt Til Amon meine Heimat. Es stimmt mich traurig, dass ich die vergangenen Jahre, seit meine Familie starb, nie daran gedacht habe, dorthin zu reisen, und je näher wir der Stadt kommen, desto mehr wächst meine Angst, dass sie bereits in Schutt und Asche liegen könnte, zertrampelt von Enkirs Armee.«
Die Sehnsucht in Sorons Stimme versetzte Hem einen Stich im Herzen, und er stellte keine weiteren Fragen. Ich habe gar keine Heimat, dachte Hem. An Pellinor erinnere ich mich nicht, und ich werde nie so dafür empfinden. Turbansk hätte mir eine Heimat werden können, doch nun liegt die Stadt in Trümmern. Wo werde ich eine Heimat finden, wenn dies alles vorüber ist? Wenn es das je sein wird? Werde ich Maerad wiederfinden? Habe ich sie bereits verloren, oder lebt sie noch und sucht nach mir? Er war zwar überzeugt davon, dass seine Schwester noch am Leben war, hatte jedoch keinen triftigen Grund dafür; lediglich ein Gefühl ihrer Gegenwart berührte die Ränder seines Geistes und versicherte ihm in stillen Augenblicken, dass sie noch lebte und an ihn dachte. Aber wie konnte er seinen Gefühlen vertrauen, wenn er sich bei Zelika so sehr geirrt hatte? Er war so sicher gewesen, dass sie sich lebendig unter den Kindsoldaten befand; bis zur Festung des Namenlosen höchstpersönlich war er ihrer Spur gefolgt, ehe er herausfinden musste, dass sie bereits Wochen zuvor getötet worden war. Vielleicht war sein Gefühl, was Maerad anbetraf, ebenso trügerisch. Unwillkürlich scheute er vor dem Gedanken zurück.
Vielleicht hat Zelika nach Hause gefunden, dachte er. Er erinnerte sich daran, wie er sie in Turbansk zum ersten Mal gesehen hatte, ein Waisenkind, geflüchtet aus Baladh vor der Verheerung des Krieges, erfüllt vom verzweifelten Wunsch nach Rache gegen die Finsternis. Vielleicht hat sie auf der anderen Seite der Tore all das gefunden, was sie begehrte. Auf dieser Seite hatte sie alles verloren: ihre Heimat, ihre Familie, ihre Hoffnung…
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