Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
warten, muss er vielleicht … vielleicht für das, was er gerade tut, gar nichts tun …« »Maerad, du redest wirres Zeug«, befand Cadvan.
»Ich weiß …«, stieß Maerad verzweifelt hervor. »Können wir rausgehen?« »Soll ich dich begleiten?«
»Bitte komm mit. Beeil dich.«
Cadvan hob die Decke auf, die Maerad auf den Boden geworfen hatte, und legte sie ihr um die Schultern, dann eilten sie beinah im Laufschritt aus dem Wachhaus und zur Palisade an den Toren. Als sie den Schutz des Wachhauses verließen, traf sie die Kälte fast wie ein körperlicher Schlag; Maerad spürte, wie ihr Gesicht schlagartig taub wurde, und ihre Vorahnung verstärkte sich zu einem Anflug von Panik. Im Laufen wickelte sie sich die Decke wie ein Kopftuch um. Die Gegenwart des Landrosts war so durchdringend, dass sie ihr Übelkeit verursachte; er befand sich in der Luft selbst, dicht, kalt, erbarmungslos…
Es fühlt sich wie deutlich unter dem Gefrierpunkt an, meinte Cadvan in ihrem Geist. Aber es ist nirgends Eis.
Nein, erwiderte Maerad. Ich glaube, es ist eine andere Art Kälte. Als sie die Palisade erreichten, ließ Maerad den Blick über die Soldaten wandern. Es handelte sich überwiegend um Barden. Einige standen still und spähten in die gestaltlose Dunkelheit, andere stampften mit den Füßen oder liefen auf und ab, um das Blut in ihren Körpern in Bewegung zu halten. Ein Kohlenbecken brannte, spendete jedoch keine Wärme. Diejenigen, die still standen, ließen Maerads Herz einen Schlag aussetzen.
»Alle Mann in Bewegung!«, brüllte sie. Ihre Stimme reichte, gedämpft durch den Nebel, nicht weit, und ein paar Barden wandten sich ihr neugierig zu. »Alle Mann in Bewegung! Cadvan, sorg dafür, dass sich alle bewegen! Sag Indik, er soll es allen befehlen …«
»Wohin bewegen?«, fragte Cadvan.
»Nirgendwohin, sie sollen sich einfach nur bewegen!« Maerad rannte zu einer Bardin, die an der Mauer lehnte und durch eine Schießscharte spähte, und berührte sie an der Schulter. Die Frau rührte sich nicht, und in einem wilden Anflug von Ungeduld rüttelte Maerad an ihrem Arm und brüllte sie an. Zu ihrem Grauen rutschte die Bardin die Mauer hinab und landete steif wie ein Holzklotz auf dem Boden, wo die Rüstung auf dem Stein klirrte. Maerad kniete sich neben sie, schüttelte sie, schlug ihr ins Gesicht, das im flackernden Fackellicht totenbleich wirkte; die offenen Augen glitzerten vor Frost.
Indik meldete sich über Maerads Schulter zu Wort und ließ sie zusammenzucken. »Ich glaube, sie ist tot«, sagte er. »Im Stehen erfroren… Ich rufe einen Heiler.« Maerad stöhnte und spürte, wie ihr eisige Tränen über die Wangen kullerten. Abermals schüttelte sie die Frau. Eine Vision ereilte sie, eine Vision von Soldaten entlang der Mauern Inneils; alle standen sie Wache, alle waren sie tot. Zu spät, zu spät…
Indik ergriff ihre Hand, zog sie auf die Beine und sah ihr eindringlich ins Gesicht. Seine Lippen schimmerten bläulich, seine Gesichtshaut wirkte schuppig und rau, und nackte Angst umklammerte Maerads Herz: Wie nah war Indik selbst dem Tod?
»Maerad«, sagte er, »ich kümmere mich um das. Ich weiß nicht, woher du es wusstest, aber ich verlasse mich darauf, dass du mehr herausfindest. Das ist keine gewöhnliche Kälte.«
»Nein«, bestätigte Maerad. »Es ist die Kälte des Todes. Er entzieht uns das Leben … die Luft saugt es ab … Ich habe es zu spät erkannt…« Sie zitterte wieder, stand am Rand einer Panik, und Indik ergriff ihre beiden Hände mit den seinen. »Maerad«, redete er mit sanfter, zugleich jedoch eherner Stimme auf sie ein. »Solange noch Atem in uns steckt, ist es nicht zu spät. Und ich brauche deine Hilfe. Jetzt.«
Maerad holte schaudernd Luft und beruhigte sich. Sie sah sich um und nahm plötzliches reges Treiben wahr: Menschen rannten umher und riefen durcheinander, Heiler eilten mit Bahren auf die Palisade, um jene wegzutragen, die tot waren oder im Sterben lagen. Cadvan kümmerte sich in der Nähe um einen Barden, der gefallen war, während Maerad mit Indik gesprochen hatte. »Er wird jetzt angreifen«, sagte sie zu Indik. »Ich weiß es.«
»Ja«, pflichtete Indik ihr bei. »Und diejenigen von uns, die noch leben, sind bereit dafür. Das ist nicht deine Aufgabe. Also, Maerad…«
Sie nickte und zog sich in einen Winkel der fernen Mauer zurück, wo sie nicht im Weg sein würde. Auf dem Weg dorthin berührte sie Cadvan an der Schulter, damit er wusste, wo sie sich befand. Dann
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