Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
ihrer Angst gelähmt, aller Willenskraft beraubt zu werden. Sie erinnerte sich daran, was Cadvan ihr einst über Werwesen erzählt hatte: Ihre schlimmste Waffe ist Angst… Ja, der Landrost war beängstigend; der Augenblick, in dem er sie beinahe zerquetscht hatte, war schrecklich gewesen. Dennoch hatte sie überlebt, und ein kalter Teil ihrer selbst wusste, dass sie genug Macht besaß, um den Landrost herauszufordern … Wenn sie nur wüsste, wie sie diese Macht einsetzen musste; wenn sie nur nicht so erschöpft wäre. Diese Angst, die sie jetzt gefangen hielt, war etwas gänzlich anderes als die Furcht vor dem Landrost und seinen Geschöpfen. Es musste der Winterkönig sein. Maerad wusste nicht, was sie fühlte oder was sie tun würde, sollte er plötzlich vor den Toren Inneils erscheinen. Aber wie könnte er das? Er hatte ihr selbst von seiner schmerzlichen Verbannung aus Arkan-da berichtet, ihr erzählt, dass die Elidhu an ihre Orte gebunden waren, die Orte ihr Wesen ausmachten, auf eine entscheidende Weise, die sie nicht verstand. Andererseits war der Winterkönig in Afinnil gewesen, demnach musste er die Berge verlassen können, wenn er wollte. Und wenn er hierher käme, hegte sie keine Zweifel daran, dass er seine eigenen Gründe dafür hätte: Er würde sie wieder fangen und mit in seinen Eispalast nehmen wollen. Und sie wusste, dass ein Teil von ihr sich danach sehnte, mit ihm zu gehen, unabhängig davon, dass er, nüchtern betrachtet, sie als Mittel für seine eigenen Zwecke einzusetzen gedachte; doch selbst dieses Wissen machte es nicht einfacher, sich von seiner Stimme abzuwenden.
Sie wünschte, sie könnte die Bündnisse und Pläne der Elidhu verstehen, doch diese Geschöpfe waren zu unberechenbar. Sie dienten weder der Finsternis noch dem Licht, sondern ihren eigenen Vorstellungen. Ardina hatte Maerad geholfen, hatte ihr sogar das Leben gerettet, aber auch Ardina hatte ihre eigenen, unergründlichen Ziele, die Maerad nicht verstand. Selbst der Landrost konnte nicht gänzlich ein Handlanger des Namenlosen sein, so tief er auch in dessen Schatten wandeln mochte. Offensichtlich wollten die Elidhu das Baumlied, weshalb ihre Aufmerksamkeit Maerad galt. Wie der Winterkönig ihr voll Verachtung gesagt hatte, war das Baumlied in der Tat ein Lied, es musste gespielt werden, und zwar von Maerad, die keine Melodie dazu hatte und überhaupt nichts davon verstand.
Ein tiefes Seufzen entrang sich ihr. Ihre Überlegungen schienen stets auf dasselbe hinauszulaufen: Sie wusste nicht, was sie tat, dennoch schien alles von ihr abzuhängen. Maerad fühlte sich sehr klein und dumm; sie konnte sich nicht vorstellen, wie es möglich sein sollte, all die Hoffnungen in sie nicht zu enttäuschen. Gleichzeitig regte sich Arger in ihr: Warum sie?
Maerad aß den Eintopf zu Ende, dann stand sie zittrig auf, um den leeren Teller auf den Tisch zu stellen. »Ich bin todmüde«, sagte sie und drehte sich Cadvan zu. »Selbst der Medhyl hilft nicht besonders. Wenn der Landrostjetzt beschlösse zuzuschlagen, wäre ich so viel nütze wie ein Stück nasser Faden.«
Cadvan musterte ihre Züge. »Du hast etwas mehr Farbe«, meinte er. »Vorher hast du ausgesehen, als fließe gar kein Blut mehr in dir.« Kurz zögerte er, dann fragte er, ob sie sich in der Lage fühlte, erneut den Landrost zu erspüren. »Ich verlange nicht, dass du etwas tust, das dich in dieselbe Gefahr bringt, in der du zuvor geschwebt hast«, fügte er hinzu. »Aber trotzdem …«
»Ich weiß.« Maerad schaute zu Cadvan auf und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. »Ich weiß, dass du fragen musst, Cadvan. Im Augenblick kann ich nicht, aber vielleicht in einer kleinen Weile.«
Verstohlen brach die Nacht über Inneil herein. Die Sonne wurde von so dichten Wolken verhüllt, dass der Übergang kaum wahrnehmbar erfolgte: Die Schatten vertieften sich nur immer mehr, bis die Dunkelheit nachgerade etwas Greifbarem glich. Als die Luft kälter wurde, begann dichter Nebel in trägen Wogen von den Bergen herabzurollen. Indik beobachtete dies bestürzt. Er glaubte nicht, dass die Wetterbanne den Nebel abhalten würden. Unwetter waren eine Sache, Nebel eine andere.
Er sandte eine Warnung an die Verteidiger der gegenüberliegenden Mauer, die den Nebel nicht sehen würden, dann spielte er kurz mit dem Gedanken, Verbindung mit Maerad aufzunehmen, um herauszufinden, ob sie zu sagen vermochte, ob der Nebel das Werk des Landrosts war. Letztlich entschied er sich dagegen.
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