Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Maerad erneut auf die Stirn. »Liebes, schlaf solange wie nötig. Ich werde die Besucher von deiner Tür fernhalten; halb Inneil ist schon hier gewesen und wollte dir Dank aussprechen. Die andere Hälfte wird wahrscheinlich morgen auftauchen. Wir schulden dir unser Leben.«
Maerad fühlte einen seltsamen Kummer in sich aufkeimen. »Niemand schuldet mir etwas«, flüsterte sie. »Gar nichts. Ich verdanke Inneil alles.«
»Liebes, darüber unterhalten wir uns morgen«, schlug Silvia vor. Sie bettete Maerad wieder unter die Decke, streichelte ihr über die Stirn, und Maerad spürte, wie die Müdigkeit gleich einer mächtigen Welle über sie hinwegspülte und sie in warme Dunkelheit trug. Einen Lidschlag darauf schlief sie bereits. Silvia blieb noch eine Weile auf dem Bett sitzen und beobachtete Maerad mit besorgt gerunzelter Stirn. Dann seufzte sie schwer, stand auf und verließ die Kammer.
Eine Woche verstrich, bevor Maerad die Kraft fand, einen ganzen Tag außerhalb des Bettes zu verbringen. Dennoch bettelte sie darum, aus dem Heilhaus entlassen zu werden, weil es ihr unangenehm war, dort zwischen anderen darniederzuliegen, die so viel schlimmer verwundet waren als sie. Nach einer strengen Untersuchung pflichtete Silvia ihr vorsichtig bei, dass abgesehen von äußerster Erschöpfung alles in Ordnung mit ihr zu sein schien, und gestattete Maerad, wieder zu ihr und Malgorn ins Bardenhaus und jenes Zimmer zu übersiedeln, das Maerad als das ihre betrachtete.
Dort, wo sie zum ersten Mal festgestellt hatte, was es bedeutete, eine Bardin zu sein, lag sie im Bett und aß gehorsam die Mahlzeiten, die man ihr brachte, während sie dem sanften Plätschern des Springbrunnens draußen lauschte. Von ihrem Bett aus konnte sie die obersten Äste eines Pflaumenbaumes sehen. Die Spitzen seiner Finger begannen sich allmählich mit dem Versprechen von Blüten zu röten, was sie daran erinnerte, dass fast ein ganzes Jahr seit ihrem ersten Besuch in Inneil verstrichen war.
Am zweiten Tag nach der Schlacht hatte Maerad darauf bestanden, in die Große Halle zu gehen, um den Toten die Ehre zu erweisen, und sie hatte ihren Willen erst nach einem hitzigen Streitgespräch mit Cadvan und Silvia durchgesetzt, die beide fürchteten, sie könnte zusammenbrechen.
»Ist mir egal«, hatte Maerad störrisch entgegnet, den Mund zu einer entschlossenen Linie verkniffen. »Wenn ich müde werde, kann ich mich ja ausruhen. Und es ist nicht sehr weit. Wenn ihr mir nicht helfen wollt, gehe ich allein hin.«
Schließlich hatte Cadvan geseufzt und nachgegeben, sogar ihrem Verlangen, zu Fuß zu laufen. Maerad fand es albern, eine so kurze Strecke zu reiten. Silvia hatte sie in einen dicken Filzmantel gewickelt, und auf Cadvans Arm gestützt hatte Maerad sich den Weg zur Großen Halle gebahnt. Obwohl es tatsächlich nicht weit war, hatten sie lange gebraucht, um hinzugelangen. Maerad musste sich alle paar Schritte ausruhen, und als sie ihr Ziel letztlich erreichten, zitterte sie am ganzen Leib vor Anstrengung. Eine lange Reihe von Trauernden stand in der Halle Schlange, doch als sie sahen, wer eingetroffen war, ging ein Raunen durch die Menge, und die Leute begannen, sich die Hälse zu verrenken, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Jene in ihrer Nähe traten zurück, um den Weg für sie freizugeben; einige verneigten sich oder sanken sogar auf die Knie. Viele wirkten schlicht von Ehrfurcht ergriffen. Vermutlich weil Cadvan so entschieden beschützend dreinblicke, wagte jedoch niemand, sich ihr zu nähern und sie anzusprechen.
Maerad fühlte sich zutiefst verstört und ersuchte die Menschen mit eindringlichen Handbewegungen, wieder aufzustehen. Mit vor Verlegenheit geröteten Wangen drehte sie sich Cadvan zu.
»Warum tun sie das?«, murmelte sie. »Das brauchen sie doch nicht… schon gar nicht hier… Ich meine, andere Menschen haben ihr Leben geopfert…« »Maerad, es ist sinnlos, sich verlegen zu fühlen«, gab Cadvan zurück. »Du besitzt mittlerweile einen weiteren Namen: die Maid von Inneil. Es gibt bereits Lieder über das, was du vollbracht hast. Also gewöhn dich besser daran.«
»Aber das war doch nicht ich«, entgegnete Maerad, die wachsendes Unbehagen empfand. »Ich meine, gut, da war der Landrost, aber ich war nur eine von so vielen anderen … Ich fühle mich dabei wie, na ja, wie eine Heuchlerin …«
»Nein, du warst es nicht allein. Wir beide wissen das. Aber Maerad, du musst verstehen, dass die Menschen Geschichten brauchen. Du hast
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