Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
gegen den Landrost gekämpft und gewonnen - das ist eine wundervolle Geschichte. Und selbst wenn du dich darin nicht erkennst, bedeutet das noch nicht, dass die Geschichte nicht wahr ist. Die Leute hier werden noch ihren Enkeln davon erzählen, dass sie dich gesehen haben. Sei liebenswürdig, und nimm ihren Dank entgegen. Sie müssen jemandem dafür danken, dass sie noch leben.«
Maerad blickte auf ihre Füße hinab; ihre Wangen loderten vor Verlegenheit. »Hoch mit dem Kinn«, forderte Cadvan sie auf. Plötzlich lächelte er unwiderstehlich schelmisch, und einen Lidschlag lang verschwanden all die Sorgenfalten aus seinem Gesicht. »Du warst doch diejenige, die herkommen wollte. Ich habe dich davor gewarnt. Willst du etwa zugeben, dass ich doch recht hatte?« Maerad begegnete der Herausforderung in seinem Blick und straffte die Schultern. Ihre Beine zitterten ob der Mühe, die es ihr bereitet hatte, vom Bardenhaus hierher zu laufen, dennoch ging sie, schwer auf Cadvans Arm gestützt, steten Schrittes durch die Halle, hielt vor jedem Toten an, um das Haupt zu senken, und bat Cadvan, ihr den in jedes der roten Tücher gestickten Namen vorzulesen. Die meisten kannte sie nicht, bei einigen jedoch stockte ihr der Atem: Casim, mit dessen Geist sie den ihren verschmolzen hatte, um die Wetterbanne gegen den Sturm zu weben, war einer der Gefallenen, und unter ihnen befanden sich noch andere, die sie aus ihrer Zeit in Inneil kannte.
Als Maerad die Runde durch die Halle beendet hatte, weinte sie, und selbst ihr Stolz vermochte nicht mehr, sie auf den Beinen zu halten. So viel Tod und so viel Kummer waren mehr, als sie begreifen konnte. Jemand brachte ihr einen Stuhl, damit sie sich mit in den Händen vergrabenem Gesicht setzen konnte, während die Trauernden sich mit einem Achtungsabstand um sie scharten und um einen Blick auf sie wetteiferten. Sie widersprach Cadvan nicht, als er
Gedankenverbindung zu Indik aufnahm und ihn bat, ein Pferd zu bringen, das Maerad zurück zum Bardenhaus bringen sollte, und dort musste sie sogar in ihr Zimmer getragen werden. Sie war bereits eingeschlafen, noch ehe ihr Kopf das Kissen berührt hatte.
Danach lehnte Maerad sich nicht mehr gegen ihre zwangsverordnete Ruhe auf, die sie in Wahrheit als willkommene Erholung nach den Unbilden des vergangenen Jahres betrachtete; für diese kurze Zeit schob sie ihre Sorgen beiseite. Es war angenehm, sich über nichts den Kopf zerbrechen zu müssen und gefüttert, gebadet und verhätschelt zu werden, als wäre sie ein Kleinkind. In ihrer wahren Kindheit, dachte sie, hatte sie davon ohnehin herzlich wenig erfahren.
Indik, Malgorn und Silvia besuchten sie häufig, und Cadvan verbrachte viele Stunden in ihrem Zimmer, um sich entweder mit ihr zu unterhalten oder einfach still in der Ecke zu lesen. Er war angenehme Gesellschaft, anspruchslos und aufmerksam. Cadvan nutzte ihre zwangsläufige Untätigkeit, um die Bibliothek von Inneil zu plündern und nach weiteren Hinweisen über die Elidhu, das Baumlied oder den Bann zu durchforsten, den der Namenlose verwendet hatte, um sich an das Leben zu binden. Bisher jedoch hatte Cadvan keinerlei Glück bei der Suche gehabt. Manchmal holte er ein Buch mit Gedichten oder Geschichten hervor und las Maerad zu ihrem Vergnügen daraus vor, während sie sich zurücklegte und mit geschlossenen Augen lauschte. Diese Gelegenheiten gehörten zu den schönsten Zeiten in ihrem Leben: In diesem wunderbaren Zimmer, fernab von Hunger, Kälte oder Gefahr, spürte sie die Zwanglosigkeit und Nähe ihrer Kameradschaft. Als Maerad fühlte, dass ihre Kraft endlich zurückzukehren begann, versuchte sie, mit Cadvan darüber zu sprechen, was dem Landrost widerfahren war. Die vergangenen Tage hatte sie es vermieden, darüber nachzudenken, und ihr Schlaf war tief und traumlos gewesen. Eines Nachts jedoch träumte sie wieder vom Landrost und vom Winterkönig; es war ein düsterer, beunruhigender Traum, an den sie sich nachher nur vage erinnern konnte, und sie erwachte von einer Furcht verzehrt, die sie nicht zu benennen vermochte.
Bei ihrem nächsten Gespräch mit Cadvan versuchte sie stockend zu beschreiben, wie sie den Landrost zerstört hatte, wie sie etwas geworden war, das sie nicht einmal verstand, wie der Gedanke an die Macht, die dabei durch sie geströmt war, sie zutiefst geängstigt hatte. Und letztlich berichtete sie ihm nach einem zähen Ringen mit sich selbst von dem, was ihr die größte Angst einflößte: dass der Winterkönig
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