Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Tücher, die ihrem Tod zur Verteidigung ihrer Heimat Achtung zollten, während zu ihren Füßen stetig die hohen Trauerkerzen brannten. Eine Menschenschlange bewegte sich langsam, mit geneigten Häuptern, durch die Halle, um der Gefallenen zu gedenken, während ein Barde auf dem Podium das Lied des Endes auf einer Leier spielte. Nach zwei Tagen der Trauer würde man sie beerdigen. Jeder Leichnam würde von jenen, die ihn geliebt hatten, abgeholt und in den Grüften an der Ostmauer Inneils zur Ruhe gebettet. Viele weitere waren verwundet und lagen in den Heilhäusern, wo sie von den Barden versorgt wurden. Nachdem der Landrost gefallen war, hatte Silvia sich ihrer Rüstung entledigt, war geradewegs dorthin geeilt und hatte sich um die Verwundeten gekümmert, bis Malgorn ihr befohlen hatte, sich auszuruhen. Malgorn selbst glich einem wandelnden Toten, doch bevor er selbst erschöpft zu Bett ging, stellte er noch aus Landknechten, Hirten und anderen, die nicht in die schlimmsten Kampfhandlungen verwickelt gewesen waren, Arbeitsgruppen zusammen, die das Chaos der Schlacht beseitigen sollten: die Teerkessel, die blutbesudelten Binsen und den Sand. Die Leichen der Werwesen brauchten sie nicht zu entsorgen, da diese allesamt zu Staub zerfallen waren.
Die Straßen Inneils füllten sich allmählich wieder mit Menschen, die ihren Geschäften nachgingen. Sie brachten Lebensmittel auf die Märkte, umarmten ihre Kinder und kochten ihre Abendessen, als wäre dies ein gewöhnlicher Tag wie jeder andere. Aus ihren Gesichtern jedoch, aus der besonderen Freundlichkeit, mit der sie einander grüßten, sprach das stillschweigende Wissen, dass die Dinge ganz anders hätten enden können. Jedem Menschen in Inneil erschien das Leben an jenem Tag als Geschenk.
Maerad schlief bis in den Nachmittag hinein und wusste nichts von dem regen Treiben, das rings um sie herrschte. Als sie erwachte, blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und dachte an die Schrecken der vergangenen Nacht zurück. Sie fühlte sich so erschöpft, dass sie kaum die Arme zu heben vermochte. Schließlich öffnete sie die Augen und blinzelte angesichts des fahlen Wintersonnenscheins, der durch die Fensterlaibung einfiel. Sie erkannte die Kammer nicht, in der sie sich befand: Sie war im Heilhaus und lag in einem schlichten Holzbett in einem Zimmer, das sie für sich allein hatte. Die Wände waren hellblau bemalt, und ihre Laken rochen nach Zitrone. Vor dem Fenster sang ein Vogel. Lange Zeit lauschte sie seinem Zwitschern.
Neben ihrem Bett standen ein Krug Wasser und ein Becher, daneben wiederum lag eine kleine Handglocke. Sie war sehr durstig, fragte sich allerdings, ob sie die Kraft besäße, den Krug zu heben. Letztlich setzte sie sich mit erheblicher Anstrengung auf. Vorerst war dies alles, was sie tun konnte. Sie saß gegen das Kissen gelehnt da, verängstigt ob der Schwäche ihres Körpers, und sehnte sich nach Wasser.
Dann trat Silvia ein. Ihre Miene hellte sich auf, als sie sah, dass Maerad wach war. Sie eilte zum Bett und umarmte Maerad behutsam, als wäre sie eine Eierschale, die zerbrechen könnte, wenn man sie zu achtlos berührte.
»Maerad«, sagte sie und küsste sie auf die Stirn. »Du hättest die Glocke läuten sollen - dafür ist sie da. Wie fühlst du dich?«
»Ich bin sehr durstig«, erwiderte Maerad mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Krug.
Silvia lachte. »Dagegen lässt sich leicht Abhilfe schaffen.« Sie schenkte Maerad einen Becher ein und hielt ihn für sie, damit sie nichts verschüttete, während sie trank. Das Wasser war köstlich und besaß einen leichten Kräutergeschmack. Maerad stürzte zwei Becher hinunter, ehe sie sich wieder zurücklehnte und sich mit der Hand den Mund abwischte.
»Schon viel besser«, sagte sie. »Ich kann mich nicht daran erinnern, je so durstig gewesen zu sein. Es war, als hätte ich seit etlichen Tagen nichts mehr getrunken.« Silvia saß auf der Bettkante, ergriff Maerads Hand und blickte ihr nachdenklich ins Gesicht. »Für jemanden, der vergangene Nacht einen mächtigen Elidhu vernichtet hat, scheint es dir überraschend gut zu gehen«, meinte sie. »Tatsächlich bist du nur ein wenig blass. Ich bin erstaunt.«
»Und ich bin sehr müde«, gab Maerad zurück. »So unendlich müde. Aber ich glaube, es ist nichts gebrochen.«
»Wenn du müde bist, solltest du schlafen«, riet Silvia. »Das Wasser wird dabei helfen; es besitzt die Eigenschaft, heilsamen Schlaf zu fördern.« Sie beugte sich vor und küsste
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