Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
durch einen besonderen Baum fiel, wurde Maerad von einer schmerzlichen Wehmut überwältigt. Sie fühlte sich, als verabschiedete sie sich von allem, was sie in Inneil liebte. Vielleicht war dies das letzte Mal, dass sie eine gewöhnliche Bardin sein würde. Vielleicht würde sie nie wieder durch diese Straßen schlendern. Dies war ihre letzte Gelegenheit, sich im Licht zu vergnügen, bevor sie das Gesicht der Dunkelheit und dem ungewissen Pfad zuwandte, der vor ihr lag.
Nach einer Woche stand sowohl für Maerad als auch für Cadvan fest, dass sich ihr Aufbruch nicht länger hinauszögern ließ. Trübsinnig packten sie ihr Bündel und unterzogen Darsor und Keru einer sorgfältigen Prüfung. Der erste Teil ihres Weges durch den Gau von Inneil würde sich einfach gestalten, aber danach würden sie nach Annar gelangen, wo das Reisen allen Berichten zufolge vor Gefahren strotzte: Banditen und Schlimmeres herrschten über die Straßen, und es kursierten Gerüchte über einen Bürgerkrieg im Osten.
Doch diesmal, so hielt Indik ihr vor Augen, schwebten sie zumindest im Gau selbst nicht in Gefahr. »Wahrscheinlich sind wir hier jetzt sicherer als das ganze letzte Jahr«, meinte er. »Wofür wir dir alle dankbar sind, Maerad.« Maerad hatte es aufgegeben, die Leute davon abhalten zu wollen, ihr zu danken, und erhob lediglich ihr Glas. »Ich finde, dieser Dank gebührt vielen anderen, nicht zuletzt dir selbst, Indik von Inneil«, erwiderte sie.
Indik grinste. »Dir wird die Bürde der Dankbarkeit wohl ein bisschen zu viel, Maerad, wie?«, fragte er. »Du solltest sie genießen, solange sie andauert. Die meiste Zeit sind die Menschen ohnehin undankbar. Es werden andere Zeiten kommen, in denen du dich fragen wirst, warum niemand bemerkt, was du getan hast.«
»Ich glaube, das wäre mir lieber«, gab Maerad zurück. »Ich hätte nichts dagegen, wenn mich niemand ansähe.«
»Dafür sieht es schlecht aus, es sei denn, du ziehst dir eine Kapuze über den Kopf. Aber ehrlich, ich denke, im Großen und Ganzen sollte es für dich und Cadvan vergleichsweise sicher sein. Ein Großteil des Gesindels, das in Annar Schrecken verbreitet, besteht bloß aus gewöhnlichen Grobianen, die keine Gegner für Barden sind.«
»Es wird allerdings auch andere geben«, warf Cadvan ein- »Ich erwarte unter diesem Gesindel einige Untote.«
»Ja. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass eure Aussichten, den Großteil der Gefahren zu meistern, mehr als gut stehen. Zu schaffen macht mir nur, dass ich nicht weiß, was ihr wirklich zu bezwecken glaubt.«
Diese Unterhaltung hatten sie bereits schon früher geführt, deshalb begann Maerad, von etwas anderem zu reden. Es gab keine wirkliche Antwort auf Indiks Zweifel. Er fand, es wäre für Maerad und Cadvan sinnvoller, nordwärts nach Norloch zu reisen, um sich des Geschwürs dort anzunehmen. Was sie vorhatten, sah er als völligen Wahnsinn an.
Bevor sie aufbrachen, veranstalteten Silvia und Malgorn einen Festschmaus zu ihren Ehren. Zu Maerads Erleichterung gab es dabei jedoch keine Förmlichkeiten, nur jede Menge gutes Essen und Wein, Unterhaltungen und später natürlich Musik. Sie beabsichtigten, am nächsten Tag vor Sonnenaufgang abzureisen, deshalb verabschiedeten sie sich noch in jener Nacht. Maerad umarmte ihre Freunde und spürte, wie sich Kummer gleich einer Blüte in ihrer Brust entfaltete. Sogar in Indiks Augen glänzten Tränen, als er ihr die Hände reichte, über ihre verstümmelten Finger strich und ihr alles Gute wünschte.
Silvia küsste Maerad zart auf die Wange, dann hielt sie sie auf Armeslänge vor sich und musterte ihr Gesicht. »Was bist du doch gewachsen, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind!«, rief sie aus. »Maerad, ich habe alles Vertrauen der Welt in dich. Ich werde nach dir Ausschau halten, wenn der Frühling Einzug ins Land hält.«
»Ich werde wiederkehren«, erwiderte Maerad mit einer Überzeugung in der Stimme, die sie keineswegs empfand.
Während sie in jener Nacht schlaflos in ihrem Zimmer lag, ließ sie sich ihre Worte an Silvia durch den Kopf gehen. Sie fühlten sich wie ein Gelübde an, doch es war ein Versprechen, von dem sie nicht wusste, ob sie es halten könnte. Würde sie den Frühling überhaupt erleben? Sie gab sich Mühe, nicht an die Zukunft zu denken, die nur einen düsteren Pfad nach dem anderen für sie bereitzuhalten schien. Maerad wusste nicht einmal, was sie wirklich zu tun versuchte. In jenem Augenblick, mitten in der Nacht und kurz davor,
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