Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
unabhängig von den jeweiligen Umständen. Hem lag auf dem Rücken, starrte in die Dunkelheit und dachte an seine Zeit in Edinur bei den Untoten zurück, dann an die noch schlimmere Zeit in Sjug’hakar Im und Dagra, wo er ins Herz der Finsternis selbst geblickt hatte. Zum ersten Mal seit damals hatte er Angst.
Irgendwann versank er letztlich in unruhigen Schlaf, heimgesucht von alten Albträumen über die Untoten, die in Edinur vor seinen Augen einen Jungen namens Mark getötet hatten, und von neueren über die Hügel von Glandugir, wo seltsame, todbringende Kreaturen aus dem verworrenen Unterholz auftauchten und mit insektenartigen Flügeln schlugen oder über die dunklen Straßen von Dagra, wo er Karim folgte, der in einen schwarzen Mantel gekleidet war und stets in dem Augenblick um eine Ecke außer Sicht geriet, in dem Hem im Begriff war, ihn einzuholen.
Dann hörte er plötzlich eine Stimme, die dem Licht der Sterne selbst zu gehören schien, und es war, als höben sich alle Schatten hinfort.
Er befand sich in einem gepflegten, von warmem Sonnenschein gefluteten Garten. Vor ihm unter einem mit weißen Blüten bedeckten Baum stand Maerad mit hoch erhobenen Armen, als wöbe sie einen Bann. Sie trug ein langes rotes Kleid, das ihren Körper mit schlichten Falten umgab, und Hem sah, dass zwei Finger ihrer linken Hand fehlten. In seinem Traum verspürte er darüber kein Entsetzen: Er nahm es ebenso einfach hin wie den Garten und Maerads Gegenwart. Ihre Blicke begegneten sich, und Maerad lächelte und senkte die Arme. Hem lächelte zurück. Er fühlte sich rundum glücklich, bis ins Mark erfüllt von einem tiefen Wohlbefinden. Es bedurfte keiner Worte, und in jenem Augenblick wünschte er sich nichts. Eine scheinbar lange Weile standen sie beisammen, dann verblasste die Vision zu einer warmen, behaglichen Dunkelheit, ehe Hem schließlich in traumlosen Schlaf versank.
Regen
Nachdem der Regen eingesetzt hatte, regnete es ununterbrochen.
Der stete graue Niederschlag passte zu Hems Stimmung, die unverändert düster blieb. Seit sie Thorkuls Hort verlassen hatten, fühlte es sich an, als wäre ihre Gruppe mit einem Fluch belegt; was gar nicht so unwahrscheinlich war, dachte er verdrießlich, wenn Karim mit einem Untoten im Bunde stand. Der Schmerz über Karims Verrat hatte zunächst durch Hems Traum von Maerad ein wenig nachgelassen: Am folgenden Morgen war er ausgeruht erwacht, gewärmt vom Nachglühen der Glückseligkeit, die er in dem Traum empfunden hatte. Hem betrachtete ihn als ein Zeichen dafür, dass Maerad ihn erwartete, und er erfüllte ihn mit Zuversicht, dass sie ihr näher kamen.
Beim Frühstück erzählte er Saliman davon. »Ich bin sicher, es bedeutet, dass sie noch lebt«, sagte er. »Es war kein gewöhnlicher Traum, sondern einer wie jene, die ich über Nyanar hatte …« Nyanar war der Elidhu, dem Hem in Suderain begegnet war. Sein Zauber hatte Hem in eine andere, frühere Zeit versetzt, und Hem erinnerte sich daran, als wäre es zugleich ein Traum und Wirklichkeit gewesen.
Saliman lauschte aufmerksam, doch alles, was er erwiderte, war: »Ich hoffe, du hast recht, Hem. Das hoffe ich inständig.« Aus diesen Worten hörte Hem die Unsicherheit des Barden, die Zweifel, ob sie Maerad je finden würden, ob sie dem richtigen Pfad folgten. Danach verflog die Wärme des Traumes nur allzu rasch. Und sie waren zweifellos nicht gegen Unglück gefeit. Nachdem es drei Tage ununterbrochen geregnet hatte, gerieten Marich und Karim, deren Beziehung selbst im besten Fall auf wackeligen Beinen stand, heftig in Streit über etwas so Belangloses, dass sich beide nicht mehr an den Stein des Anstoßes erinnern konnten. Jedenfalls weigerten sie sich danach, miteinander zu reden, außer jemand anders vermittelte zwischen ihnen. Dieser Jemand war in der Regel Hekibel, die verärgert über alle beide war. Fenek, der Hund, biss Karim in die Hand, und die Verletzung musste verbunden werden. Selbst die Pferde, große, gutmütige Tiere, die Marich liebevoll versorgte, wurden übellaunig, und eines von ihnen trat Marich so heftig an den Oberschenkel, dass er verkrüppelt worden wäre, hätte Saliman ihn nicht behandelt.
Nach ihrem Gespräch über Karim blieben Hem und Saliman mehr unter sich, was jedoch in der allgemein düsteren Stimmung niemandem auffiel. Das Lagern im Zelt erwies sich als ein elendes Unterfangen: Das Zelt mochte, wie Hem meinte, zwar den Regen abhalten, aber es war kein Boot. Als sie es eines
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