Die Pelzhändlerin (1. Teil)
hatten.
Noch einmal ging sie in Gedanken alle Möglichkeiten der Färberei durch, die sie kannte. Da war zum Beispiel der rote Farbstoff, der aus dem Drüsensekret der Purpurschnecken gewonnen wurde. Doch für ein einziges Gramm benötigte man 12 000 Schnecken, darum war Purpur auch unglaublich teuer.
Eine andere Möglichkeit, rote Farbe aus Tieren herzustellen, bot der Kermesscharlach. Er wurde aus Schildläusen gewonnen, die im April und Mai von den Blättern gekratzt und anschließend getrocknet wurden. Aber jeder wusste, dass Kermesscharlach weitaus weniger kräftig färbte als Purpur.
Die Krappwurzel hingegen war ein gutes Färbemittel, wenn man sie trocknete, zerkleinerte und aufkochte. Doch auch sie färbte rot, und die Kleiderordnung verbot Rot für Schauben und Umhänge, denn das war noch immer die Farbe der Könige.
Außerdem waren die gefärbten Pelze aus Italien blau und grün gewesen. Sibylla holte noch einmal Lucias Brief hervor und erinnerte sich dabei wieder an die Waidpflanze. Sie hatte bei ihrem Aufenthalt auf dem Land vergessen, danach zu fragen, doch sie ahnte, dass sie aus der Wetterau keine Hilfe bekommen hätte.
Wer könnte etwas über die Waidpflanze wissen? Wer?
Sibylla überlegte, und plötzlich fiel ihr Ida ein. Ida, die Hausangestellte Isaak Koppers. Wenn jemand in Frankfurt etwas über diese geheimnisvolle Pflanze wusste, dann sie. Und bei Ida konnte sich Sibylla obendrein ganz sicher sein, dass sie nicht darüber schwatzte.
Doch sollte sie wirklich zu Kopper gehen? Sie musste damit rechnen, ihm zu begegnen. Oder, was vielleicht noch schlimmer war, seiner schwangeren Frau. Und was dann? Würde sie es ertragen, Kopper glücklich zu sehen? Würde sie es aushalten, zu erfahren, dass Isaak sie und die wunderbare einzige Nacht, die sie gemeinsam verbracht hatte, vergessen hatte?
Unentschlossen ging Sibylla zu Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Nach einer langen Zeit der Ruhe träumte sie wieder. Zuerst von der Wahrsagerin, die ihr einst, als sie Lucia kennen gelernt hatte, aus der Hand gelesen hatte.
«Die Liebe ist das Wichtigste im Leben. Wenn Ihr sie verschmäht, so verschmäht Ihr das Leben. Ohne sie werdet Ihr niemals heil werden. Sie ist es allein, die Euch helfen kann», hatte die Alte gesagt.
Sibylla hatte die Liebe verschmäht. Hatte sie damit auch die Möglichkeit verspielt, jemals glücklich zu werden?
Dann kam die tote Sibylla. Sie trug das Kostüm einer Krähe, hackte mit dem Schnabel nach ihr. «Du bist nicht wie ich, wirst niemals sein wie ich. Eine Diebin bist du, hast mir den Tod gestohlen, kannst auf Erden nicht glücklich sein.»
Doch dann tauchte die Wahrsagerin wieder auf und widersprach: «Die Liebe kann sie heilen, einzig die Liebe.»
Schweißgebadet erwachte Sibylla. Obwohl es noch nicht einmal dämmerte, stand sie auf und setzte sich in der Meisterstube über die Kontorbücher. Floh vor ihren Träumen, ihrem Geheimnis, das sie immer begleitete, wohin sie auch ging.
Zwei Tage lang überlegte sie, doch dann gewannen die geschäftlichen Interessen und ihre Neugierde.
Am Abend, nach vollbrachtem Tagwerk, machte sie sich auf den Weg in die Schäfergasse. Ihr Herz schlug rasend schnell, und Sibylla wusste nicht, welche Gebete sie im Gehen vor sich hin murmeln sollte: «Lieber Gott, mach, dass Isaak auf Reisen und nicht zu Hause ist» oder «Lieber Gott, mach, dass er da ist und ich ihn sehen kann»?
Viel zu rasch war sie vor dem Haus angelangt. Der Weg schien diesmal sehr viel kürzer als sonst. Vorsichtig schaute sie zu den Fenstern hinauf. Das Haus lag im Dunkeln, die Räume waren nicht erleuchtet.
Sibylla atmete auf, gleichzeitig wurde sie wehmütig. Er ist nicht da, dachte sie. Sie wusste nicht, ob sie froh oder traurig darüber sein sollte, doch sie beschloss, sich nicht länger Gedanken darum zu machen. Sie wollte zu Ida, wollte das Geheimnis der Waidpflanze lüften. Deshalb war sie hergekommen, und das allein zählte in diesem Augenblick. Ida würde da sein. Einer musste das Haus hüten. Wo sollte sie auch sonst sein?
Es war kalt, der eisige November war in einen noch kälteren Dezember übergegangen. Der Wind heulte durch die Gassen, löschte die wenigen Fackeln und zerrte an Sibyllas Umhang. Sie atmete noch einmal tief durch, dann betätigte sie den Türklopfer und lauschte, ob sich im Haus etwas rührte. Alles blieb still. Nur der Wind jammerte und heulte.
Noch einmal packte sie die Messingschlange und schlug sie, diesmal kräftiger,
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