Die Pension Eva
mit dem linken Bein versehentlich das Bein von Graziella. Schnell zog er es zurück. Sie sollte auf keinen Fall denken, es sei Absicht gewesen.
»Verzeihung.«
Auch Jacolino, der sonst immer so ausgelassen war, schien sich nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Er hielt den Blick stumm auf den Teller gerichtet. In der Pension Eva ging es so heiter zu wie in einem Totenhaus.
»Der Fisch schmeckt ausgezeichnet«, sagte Signora Flora und schob den Teller von sich, auf dem nur noch die blanken Gräten lagen.
»Ausgezeichnet«, pflichteten die sechs Mädchen ihr bei.
Dann erhob sich Signora Flora, und die Mädchen taten es ihr gleich.
»Entschuldigt, aber ich würde mich jetzt gerne zurückziehen, ich habe Kopfschmerzen.«
»Oh, wie schade!«, sagte Ciccio, aber es klang nicht ganz ehrlich.
»Kann ich euch allein lassen?«, fragte Signora Flora nun an die Mädchen gewandt.
»Seien Sie unbesorgt, Signora«, antwortete Graziella, die Älteste.
»Jacolino, dich erwarte ich morgen nach dem Mittagessen. Gute Nacht.« Sie verschwand durch die Tür.
Mit einem Mal hatte sich die Stimmung geändert. Es war, als hätte jemand das Fenster geöffnet und eine leichte Brise hereingelassen. Erminia fing vor Erleichterung laut an zu lachen.
»Für wen hält die sich eigentlich?«, fragte Grazia.
»Ich bin ja schon in vielen Häusern gewesen«, sagte Graziella, »aber so jemand wie diese Signora ist mir noch nie begegnet!«
Jacolino räumte die schmutzigen Teller ab und nahm das saubere Geschirr von der Anrichte.
»Wisst ihr, sie hat als Lehrerin in einem Gymnasium in Palermo …«, setzte er zu ihrer Verteidigung an.
»… und das sieht man ihr auch an!«, fuhr Emanuela dazwischen.
Allgemeines Gelächter. Da stand Grazia auf und schloss die Tür, durch die Signora Flora das Zimmer verlassen hatte.
»So stören wir sie nicht«, sagte sie, und es klang noch scheinheiliger als das, was Ciccio gesagt hatte.
Sie aßen Oliven, Käse und Sardellen und bekamen noch mehr Durst auf Wein. Nenè, der zwischen Grazia und Maria saß, schenkte den beiden oft nach. Er schwatzte mit Grazia, die ihm sehr gefiel, während Maria eher schweigsam war.
Nenè hatte Grazia genau angeschaut, als sie aufgestanden war: Sie war hochgewachsen, hatte schwarze Haare, die sie offen trug wie eine Zigeunerin, und Augen so groß wie zwei Stücke Holzkohle. Sie trug eine hochgeschlossene himmelblaue Bluse und einen weiten blauen Rock. Er ahnte, dass der Anblick ihres nackten Körpers sein Herz zum Stillstand bringen würde.
»Bist du zum ersten Mal hier?«, fragte Grazia.
»Ja.«
»Und wieso kommst du nicht öfter?«
»Weil ich erst siebzehn Jahre alt bin. Oder besser gesagt, sechzehneinhalb.«
»Ich bin fünfundzwanzig«, sagte sie. »Ich arbeite schon seit sechs Jahren in diesem Beruf.«
Nenè stellte fest, dass der Ton der jungen Frau völlig nüchtern gewesen war, so als hätte sie gesagt: »Vor sechs Jahren habe ich meinen Schulabschluss gemacht.« Und er begriff auch, dass es ein Fehler wäre nachzufragen, wie sie zu diesem Beruf gekommen war. Daher sagte er wie beiläufig:
»Ich bin nächstes Jahr mit der Schule fertig und gehe dann zur Universität. Wenn ich nicht vorher zum Militärdienst einberufen werde.«
»Dieser verdammte Krieg«, sagte Grazia leise.
Und dabei sah sie ihm fest in die Augen, denn sie wollte wohl wissen, wie er darüber dachte. Sie hatte etwas Gefährliches gesagt. Erst gestern waren in den Straßen Plakate geklebt worden, auf denen ein Soldat im schwarzen Hemd sagte:
»Tod den Defätisten!«
»Dieser ekelhafte Krieg«, sagte Nenè.
Genau in dem Moment fingen die Sirenen an zu heulen. Mit einem Mal verstummten alle. Sie hörten schlagartig auf zu lachen und wagten kaum zu atmen.
»Was sollen wir jetzt tun?«, fragte Jacolino.
»Lasst uns in den Luftschutzraum gehen«, sagte Ciccio. »Wir sind zu nahe am Hafen. Das könnte gefährlich werden.«
Signora Flora kam ins Zimmer, immer noch so tadellos gekleidet wie vorhin. Nur die Brosche hatte sie abgenommen.
»Wenn ihr in den Luftschutzraum wollt, dann jetzt sofort!«, sagte sie zu den Frauen.
»Und was machen Sie?«, fragte Ciccio.
»Ich bleibe hier.«
Sie drehte sich um und ging hinaus.
»Dann los«, sagte Graziella.
Als sie gerade das Esszimmer verließen, konnten sie die herannahenden Flieger hören. Und unmittelbar darauf die Flugabwehrgeschütze.
»Es ist viel zu gefährlich, jetzt rauszugehen.« Ciccio musste schreien, um den Höllenlärm zu
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