Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pension Eva

Die Pension Eva

Titel: Die Pension Eva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Camilleri
Vom Netzwerk:
das Rezept wissen: wie viel Mehl, wie viel Hefe, wie lange der Teig geknetet werden und wie lange man ihn unter der Wolldecke lassen musste, damit er aufging, wie viel Tomatensoße, wie viel Käse, wie viele Kartoffeln, wie viele Sardellen und bei wie viel Grad er gebacken werden musste.
    Dann, als sie die Salsicce aßen, die perfekt zubereitet waren, kam Nenè die dumme Idee zu fragen, wie der Besuch bei den Deutschen gewesen sei. Aus der Stille, die sofort eintrat, schloss er, dass dies ein Fehler gewesen war.
    »Es ist zwar nicht angebracht, jetzt darüber zu sprechen«, sagte Signora Flora, die noch bei ihnen saß, »aber wenn Emanuela dir von ihrer Begegnung erzählen will, wird dir das vielleicht genügen, und du willst gar nicht mehr erfahren.«
    Sie hatte italienisch gesprochen, wie sie es immer tat, wenn sie etwas Wichtiges zu sagen hatte. Emanuela begann zu erzählen. Aber es fiel ihr schwer, ihr deutscher Akzent war deutlicher zu hören als sonst.
    »In dem Raum standen acht Betten, auf jeder Seite vier, doch eins war leer. Ich bin zum letzten Bett auf der linken Seite gegangen. Auf dem Weg dorthin … es gab nur sehr wenig Licht …«
    »Man konnte kaum etwas sehen«, unterbrach sie Signora Flora, »der Raum war auf dem untersten Deck, es gab kein Bullauge und auch kein zentrales Licht. Über jedem Bett hing nur eine schwache Birne. Aber erzähl weiter.«
    »Schon als ich eintrat, schnürte es mir die Kehle zusammen«, sagte Grazia leise.
    »Als ich zu dem Bett ging«, fuhr Emanuela fort, »sah ich, dass der Verletzte von drei Kissen gestützt wurde, sodass er aufrecht saß. Sein Kopf war verbunden, auch die Augen, nur sein Mund war zu sehen. Als ich mich auf den Stuhl ans Kopfende seines Bettes setzte, habe ich gemerkt, dass der Verwundete …«
    Sie unterbrach sich und nahm einen großen Schluck Wein.
    »… keine Beine mehr hatte. Und der linke Arm fehlte ihm. Über dem Kopfende hing ein Pappschild mit seinem Namen und seinem Rang: Gefreiter Hans Grimmel. Mir brach der Schweiß aus, ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sagte seinen Namen, ‹Hans, Hans!›, doch er hat mich nicht gehört. Die Krankenschwester – es waren keine Ärzte da – gab mir zu verstehen, dass er mich weder hören noch sehen konnte. Ich habe ihr gesagt, dass ich deutsch spreche, aber sie hat nur eigentümlich gelächelt und ging aus dem Raum. Also saß ich da und dachte mir, wie sinnlos dieser Besuch gewesen war, als der Verwundete mir mit einem Mal ganz langsam den Kopf zuwandte. Vielleicht hatte er gerochen, dass ich da war, ich weiß es nicht. Dann hat er mit großer Mühe seine Hand ausgestreckt, seine einzige, als tastete er nach mir. Ich habe sie genommen und gedrückt. Nach einer Weile zog er mich langsam zu sich hin. Ich habe mich neben das Bett gekniet. Da hat er meine Hand losgelassen und angefangen, ganz leicht meine Haare zu berühren, meine Stirn, meine Augen, Nase, Mund und Hals. Als seine Hand weiter nach unten wanderte und dann plötzlich innehielt, begriff ich, was er wollte. Ich habe meine Bluse aufgeknöpft, den Büstenhalter ausgezogen und dann seine Hand auf meine Brust gelegt. Er hat mich lange gestreichelt. Plötzlich zog er die Hand zurück und fing an zu husten, so stark, als müsste er daran ersticken. Ich habe mich schnell angezogen, bin aufgestanden und habe die Krankenschwester gerufen. Als sie kam, habe ich sie gefragt, ob man etwas gegen diesen hartnäckigen Husten tun könne. Sie sah mich nachdenklich an und antwortete, dass da nichts zu machen sei, denn der Verwundete huste nicht, sondern weine. Und das war meine Geschichte.«
    Verflucht sei der Moment, in dem ich den Einfall hatte, diese Frage zu stellen!, dachte Nenè, als er sah, dass den Mädchen die Tränen über die Wangen strömten. Signora Flora, die ebenfalls sehr bewegt war, erhob sich.
    »Gute Nacht. Und bitte benehmt euch, ich verlasse mich auf euch.«
    Auch diesmal waren alle entspannter, kaum dass Signora Flora die Tür hinter sich geschlossen hatte. Und die melancholische Stimmung, die durch Emanuelas Erzählung aufgekommen war, wich jugendlichem Übermut.
    »Machen wir’s wie beim letzten Mal, wir knipsen das Licht aus und öffnen die Fenster«, schlug Jacolino vor.
    Ciccio machte die Fenster auf. Es war Vollmond. Er stand so tief, als hinge er direkt vor dem Fenster.
    Was für ein Mond, wie bei Leopardi!, dachte Nenè. der sich vorhin wieder einmal in seinen Büchern verloren hatte. Die Umrisse der Schiffe waren klar zu

Weitere Kostenlose Bücher