Die Pension Eva
fragte sich Professoressa Fernanda Gargiulo, die sich einfach nicht erklären konnte, wie aus Jacolino plötzlich ein Musterschüler geworden war.
Zwei Jahre hintereinander hatte sie ihn jeweils im Oktober die Latein- und Griechischprüfung wiederholen lassen und erst auf Anweisung des Rektors die Versetzung gewähren müssen. Der Rektor wiederum hatte seinerseits Anweisung vom Verbandsführer erhalten, und dieser war, wenn nicht angewiesen, so doch angefleht worden, dass sein Sohn versetzt werde. Und wie urbi et orbi bekannt war, machte Jacolinos Vater für den Verbandsführer den Kuppler. Doch zu Beginn der Obersekunda plötzlich schien Jacolino die toten Sprachen zu beherrschen, als wäre er am Parthenon oder am Forum Romanum zur Welt gekommen.
Professoressa Gargiulo korrigierte Jacolinos Hausaufgaben, aber nirgends konnte sie den Rotstift ansetzen, denn der Schüler machte einfach keine Fehler. Sie raufte sich vor Verzweiflung die Haare und gab ihm immer eine Zwei plus (bevor sie ihm die wohlverdiente Eins gegeben hätte, wäre sie lieber bei lebendigem Leibe begraben worden).
»Da stimmt doch was nicht! Da kann doch etwas nicht stimmen!«
Eines Morgens ließ Professoressa Gargiulo Jacolino im Unterricht aufstehen, um ihn zu prüfen. Sie zitterte vor Wut und wirkte, als ob sie jeden Augenblick der Schlag treffen würde.
»Steh auf, Jacolino, und sieh mich an! Bis vor kurzem hast du von Latein und Griechisch so viel verstanden wie eine Kuh. Du hast nicht das Recht, mich für dumm zu verkaufen! Erklär mir auf der Stelle, wie es kommt, dass keine Fehler mehr in deinen Arbeiten sind, oder ich gebe dir von jetzt an immer eine Sechs, auch wenn deine Hausaufgaben so perfekt sind, als wären sie von Cicero persönlich geschrieben! Und dafür werde ich auch vor dem Rektor und dem Verbandsführer geradestehen!«
Die ganze Klasse drehte sich zu Jacolino um, der von seinem Stuhl aufgestanden war. Er war zwar ein freches Bürschchen, aber ganz sicher konnte er der Lehrerin nicht von den Nachhilfestunden bei Signora Flora erzählen. Da kam ihm eine geniale Idee.
»Das kann ich hier vor der ganzen Klasse nicht gut erklären«, sagte er ernst.
In Italienisch hatte Jacolino beispielsweise keine vergleichbaren Fortschritte gemacht. Der Grund dafür lag natürlich allein darin, dass das Bordell über keine Italienischlehrer verfügte.
»Dann komm zum Katheder.«
Jacolino ging nach vorne zur Professoressa und flüsterte ihr etwas ins Ohr, jedoch so laut, dass die Klasse es ebenfalls hören konnte.
»Eines Nachts, als ich im Bett lag und schlief, flog eine schneeweiße Taube zu meinem Fenster herein. Sie kreiste zweimal über meinem Kopf, und dann verschwand sie wieder. Dabei war das Fenster geschlossen.«
Professoressa Gargiulo sah ihn überrascht an.
»Und wie war die Taube dann hereingekommen?«
»Das fragen Sie mich?«
»Was soll das Ganze, Jacolino?«
»Ich weiß nicht, was das soll. Tatsache ist aber, dass ich seitdem Griechisch und Latein kann. Manchmal brauche ich nicht einmal ein Wörterbuch. Die Bedeutung der Worte kommt mir von ganz allein.«
»Meinst du das ernst?«, fragte Professoressa Gargiulo, der, weil sie eine gläubige Frau war, angesichts dieser Geschichte sofort Zweifel kamen.
»Ich schwöre es. Und es geschah an einem Sonntag, nachdem ich die heilige Kommunion empfangen hatte.«
Das war eine unerhörte Lüge. Jacolino hatte, seit er mit sechs Jahren die erste heilige Kommunion empfangen hatte, keinen Fuß mehr in die Kirche gesetzt. Ciccio und Nenè und die gesamte Klasse hörten staunend zu. Das war mit Abstand Jacolinos beste Darbietung seit langem!
»Ich hatte zum Herrn gebetet und ihn angefleht, mich endlich Griechisch und Latein verstehen zu lassen. Und hinterher bin ich zum Pfarrer gegangen und habe ihm von der Taube erzählt.«
»Und was hat dir der Priester gesagt?«
»Dass es sich vielleicht um den Heiligen Geist gehandelt haben könne.«
Wenn sich die Dinge so verhielten, dann gab es keinen Zweifel: Jacolino hatte ein Wunder gesehen. Professoressa Gargiulo wurde bleich, bekreuzigte sich und schickte Jacolino an seinen Platz zurück. Von da an prüfte sie ihn nie wieder. Doch jetzt konnte sie ihm guten Gewissens eine Eins geben.
Und war es nicht auch ein Wunder (wenn auch nur ein halbes, wenn man das Ende der Geschichte kennt), dass Tatiana, die aus Reggio Emilia war und eigentlich Teresa Biagiotti hieß, genau zu dem Zeitpunkt in die Pension Eva kam, als der Rechtsanwalt
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