Die Pension Eva
augenblicklich hinausschießen, begann er zu zittern. Das Mädchen bemerkte es.
»Bist du denn noch nie zuvor mit einer Frau zusammen gewesen?«
»Ein einziges Mal nur.«
»Bist du aufgeregt?«
»Ja.«
»Ich auch«, sagte Grazia. »Wie seltsam. Fühl mal.«
Sie führte Nenès Hand an ihr Herz, damit er spüren konnte, wie stark es pochte.
Nenè wusste nicht, dass dies sein erstes und letztes Mal in der Pension Eva sein würde.
Zwei Monate später lernte er eine Frau kennen, die im dritten Jahr an der Universität studierte und Giovanna hieß. Man hatte sie nach Montelusa beordert, damit sie am Gymnasium Latein unterrichtete, weil es immer weniger Lehrer gab – sie waren alle im Krieg. Nenè war froh, dass Giovanna nicht in seiner Klasse unterrichtete, denn das hätte ihn in Verlegenheit gebracht. Giovanna wohnte allein in einer kleinen Wohnung in Montelusa. Damit Nenè abends mit ihr zusammen sein konnte, sagte er seiner Mutter, es sei zu gefährlich geworden, jeden Tag mit dem Bus in die Schule zu fahren, sie gerieten ständig unter Beschuss. Besser sei es, bis zum Ende des Schuljahres in Montelusa zu wohnen, und seine Mutter fand für ihn ein Zimmer bei einer Verwandten.
Trotzdem ging Nenè weiterhin jeden Montagabend mit Ciccio und Jacolino in die Pension Eva. Nicht, weil er hoffte, dass sich dort noch einmal eine glückliche Gelegenheit ergab, sondern weil er durch Emanuelas Geschichte verstanden hatte, dass er bei den Mädchen etwas über die Welt, über das Leben lernen konnte. Alle zwei Wochen kamen sechs ganz unterschiedliche Mädchen in die Pension, mit denen er sprach und denen er zuhörte. Er hatte »mit der Zufriedenheit eines Botanikers« verstanden, »dass es nicht möglich wäre, anderswo eine seltenere Spezies aufzufinden als ebendiese jungen Blüten« (doch diese Worte von Proust würde er erst viele, viele Jahre später lesen).
Viertes Kapitel
Zeichen und Wunder
Wenden wir unsere Feder jetzt Dingen zu, die allen Staunens würdig erscheinen: jenen, die wegen ihres ungewöhnlichen Charakters aus sich selbst heraus bemerkenswert sind und in Staunen versetzen.
GIRALDUS CAMBRENSIS, Topographia Hibernica
Eines Morgens las die Griechischlehrerin ihren Schülern eine Ode von Pindar vor, die der Dichter für einen Montelusaner mit Namen Midas geschrieben hatte. Dieser hatte bei den Pythischen Spielen den Sieg davongetragen, weil sein Spiel auf der Flöte unvergleichlich schön war. Während des Wettbewerbs war ihm unglücklicherweise das Rohrblatt seines Instruments gesplissen, doch er gab nicht auf: Er drehte die Flöte einfach um und spielte sie wie eine Schalmei. So gewann er den Wettkampf. Diese Geschichte weckte Nenès Neugier. Er wollte unbedingt genauer wissen, wie Montelusa zur Zeit der Griechen und Römer ausgesehen hatte. Von da an ging er regelmäßig in die alte Bibliothek. Eines Tages fand er eine Rolle, auf die ein Mönch zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts eine Karte von Montelusa und der Umgebung gezeichnet hatte. Er hatte alle Veränderungen, die sich im Lauf der Jahrhunderte in der Stadt vollzogen hatten, fein säuberlich eingetragen. Und da entdeckte Nenè etwas, was ihn in Aufregung versetzte: an der Stelle, wo in Vigàta heute die Pension Eva war, hatte einmal ein Tempel gestanden, der zum heiligen Schutzwall der Stadt gehört hatte. Offenbar wurde nach der Zerstörung des griechischen Tempels an derselben Stelle ein anderer, ein römischer Tempel, errichtet, und nach dessen Zerstörung wiederum bauten die Christen eine kleine Kirche für Seefahrer. Der Ort war auserwählt, es war ein heiliger Ort!
»Und was sollen wir deiner Meinung nach tun, wenn wir in die Pension Eva gehen? Niederknien? Beten?«, sagte Ciccio, als Nenè ihm seine Entdeckung mitteilte.
»Sei nicht albern! Ich will damit nur sagen, dass ein Ort, wenn er über Jahrhunderte hinweg als heilig gegolten hat, etwas Besonderes sein muss!«
»Wie wäre es, wenn ich Jacolinos Vater den Vorschlag mache, die Pension Eva in ‹Tempel der Venus› umzutaufen?«
Trotz der albernen Bemerkungen seines Freundes war Nenè davon überzeugt, dass die Pension Eva gleichsam ein verzauberter Ort war, was sich auch bestätigen sollte.
Oder war es etwa nicht Magie, dass Jacolino, der jeden Tag in der Pension Eva Nachhilfestunden bei Signora Flora nahm, in Griechisch und Latein Klassenbester wurde? Und die Hausaufgaben sogar zum Abschreiben an Ciccio und Nenè weitergeben konnte?
»Wie kann das sein?«,
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