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Die Perlenzüchterin

Die Perlenzüchterin

Titel: Die Perlenzüchterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Di Morrissey
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ausgepeitscht wurden, weil sie die falschen Schuhe getragen oder in der Öffentlichkeit zu laut gesprochen hatten. Von Fingern, die abgehackt wurden, weil die Frau Nagellack trug. Dann hörten wir, dass man Frauen zu Tode gesteinigt hatte, von Hinrichtungen im Fußballstadion von Kabul – ein furchtbares Gemetzel. Mein Mann schickte mir Nachricht, dass die Lebensmittel in der Stadt knapp seien und wir sehr vorsichtig sein müssten. Einige unserer Freunde erfuhren, dass ihr Leben in Gefahr war. Sie hatten zu offen gesprochen oder sich den Befehlen der Taliban widersetzt, die mit jedem Tag strenger und verrückter wurden und auf einer falschen, entstellenden Auslegung des Korans beruhten. Mein Mann erzählte meinem Cousin, der uns besuchen kam, dass sie diesen Leuten bei der Flucht halfen.
    Wir dachten immer noch, die Dinge würden sich wieder ändern, doch es ging immer weiter. Vier Jahre lang litten wir. Ich bekam meinen Mann kaum zu sehen, und wenn er endlich nach Hause kam, war er krank und erschöpft. Zu meiner eigenen Sicherheit erzählte er mir nichts. Aber ich wusste, dass er mit Menschen im Widerstand zusammenarbeitete, um unser Schicksal im Ausland bekannt zu machen und die übrige Welt um Hilfe zu bitten. Doch niemand schien uns zu hören.
    Wir langweilten uns im Haus. Also brachte mein älterer Onkel meinen Schwestern und mir das Teppichknüpfen bei, und zusammen mit meiner Mutter knüpften wir mir einen Tschowal. Das ist ein Teppich mit einem Leinwandrücken, den man als Tasche zusammenrollen, aufhängen oder als Vorleger benutzen kann. Bräute fertigen einen Aussteuer-Tschowal an, den sie in ihr neues Heim mitnehmen. Wir beschlossen, die Legende von Leila und Madschnun in das Muster des Teppichs einzuarbeiten. Nach Leila bin ich benannt. Es ist eine persische Geschichte, ganz ähnlich eurem Romeo und Julia. Ehe mein Bruder getötet wurde, brachte er uns auserlesene Wolle von den besten Schafen. Gekämmt und gesponnen glänzt sie mehr als Seide, und über die Hand drapiert, schimmert sie feucht und verheißungsvoll. Die Teppichtasche ist so fein und prächtig und täuscht dabei über ihr eigentliches Wesen hinweg: Sie ist praktisch und beinahe unzerstörbar. In meinen Augen steht sie für die Fähigkeit, die Liebe zu bewahren.
    Dann kam eines Nachts ein Mann in unser Haus, ein Amerikaner. Er war Teppichhändler, kaufte aber auch Familienbesitz: Schmuck, Erbstücke, Antiquitäten und Festtagskleidung. Diese Kleidung bestand aus kunstvoll bestickten, mit Gold- und Silbermünzen besetzten Kleidern. Die Leute verkauften alles, um mit dem Geld nach Pakistan oder Indien zu fliehen. Sie hofften, dort in Sicherheit abwarten zu können, bis die Lage sich änderte. Dann wollten sie nach Hause zurück.
    Die Kämpfe wurden schlimmer, und die fanatischen Taliban zogen durch die Städte und Dörfer – wilde junge Männer, die man in reinen Jungenschulen religiös erzogen hatte. Die Güte und Fürsorge der Frauen hatten sie nie kennen gelernt. Sie hassten uns.
    Wir lebten wie im Gefängnis. Unser Land wurde zerstört. Unsere Herzen waren gebrochen, doch unser Geist blieb stark. Wir erzählten einander Geschichten und sangen Lieder – heimlich und leise. Wir erinnerten uns gegenseitig an glücklichere Zeiten, an besondere Familienereignisse, die wir in allen Einzelheiten durchgingen. An einem Nachmittag riefen wir uns zum Beispiel alles wieder ins Gedächtnis, was wir von einer Hochzeit oder von einem bestimmten Fest noch wussten. Abends erzählten wir uns die klassischen Geschichten der persischen Literatur oder aus dem Koran.
    In einer grässlichen Nacht kamen schwer bewaffnete Talibankämpfer ins Dorf, zerrten die Männer hinaus auf die Straße und verlangten Geld und Wertsachen. Sie wollten Informationen und schlugen unsere Männer, doch niemand hatte Antworten auf ihre wahnsinnigen Fragen. Dann fesselten sie die Männer und ließen sie zusehen, als sie ihre Töchter, Frauen und Schwestern vergewaltigten und schlugen. Es war grausam und herzlos. Einige Frauen wurden getötet, mein Onkel erschossen und mein Vater wurde verprügelt und starb an den Schlägen. Einige hübsche jüngere Frauen wurden entführt. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschah. Meine Schwestern waren auch dabei.
    Ich überlebte, weil mein Onkel so klug war, meine Töchter und mich zum Fluss zu schicken, sobald er wusste, dass die Taliban da waren. Wir versteckten uns dort. Es war eine Verzweiflungstat, aber sie funktionierte, und ich bete

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