Die Perlenzüchterin
sie erzählten uns, wenn uns die Weißen fänden, würde man uns ins Gefängnis stecken. Wir blieben ein paar Wochen bei ihnen. Es ist schwer zu erklären, wie ich mich fühlte, aber das Leben erschien mir absolut sinnlos. Mein Herz war gebrochen. Ich war nun allein in einer fremden Welt. Die Leute waren gütig, aber nichts konnte mich heilen. Die beiden geretteten Männer baten die Aborigines, sie in eine Stadt zu bringen, von wo aus sie in eine der Großstädte wollten. Sie waren gebildet und sprachen Englisch. Ich weiß nicht, was weiter mit ihnen geschehen ist.
Ich hatte tiefe Schnittwunden, die sich infizierten. Die schwarzen Frauen behandelten mich mit ihren Kräutern und einer Lehmpaste, und langsam heilten meine Wunden. Dann sagten sie mir, dass Freunde aus der Wüste kämen. Es wäre sicherer für mich, mit ihnen mitzugehen. Ich wusste – und sie wussten –, dass ich mich mit meiner Trauer beschäftigen musste.
Und so kamen wir in dieses Wüstendorf, einen Außenposten. Ich war noch nie im Hauptdorf, aber ich habe so viele Geschichten über die Probleme dort gehört – Drogen, Alkohol, Benzinschnüffeln, Gewalt. Die Leute hier haben mir erzählt, wie sie Unterstützung von irgendeiner Stelle bekamen, damit sie dieses Dorf aufbauen konnten, alkoholfrei und unter starker Führung. Zuerst habe ich nicht verstanden, warum die schwarzen Menschen in Australien weit weg von den weißen Menschen leben müssen, damit sie ihre Kultur praktizieren, sich selbst heilen können.
Jeder Tag war wie der vorhergehende. Ich sprach immer noch meine Gebete, ich führte immer noch Selbstgespräche in meiner Muttersprache. Ich wollte meine Kultur nicht vergessen, also begann ich, den Frauen und Kindern unsere Geschichten zu erzählen. Ich erzählte ihnen Geschichten von den Güls – den Stammeszeichen – auf meiner Teppichtasche. Rosen stehen für Glücklichsein; die Sonne ist die Freude, der Mond der Frieden. Zu knüpfen bedeutet für uns, eine Geschichte zu schreiben. Jeder Knoten ist eine Erinnerung, ein Gefühl, ein Herzschlag – unbezahlbar. Die Hauptgeschichten befinden sich im Mittelfeld, die Ränder erzählen von der Familie, von Beziehungen und der Geschichte. Wenn ich die Knüpfarbeit in der Tasche berühre, dann höre ich das Lachen meiner Schwestern und meiner Mutter, dann spüre ich die Berührung der Hände meines Vaters und meines Onkels auf meinem Kopf, dann denke ich an meinen Bruder.
Ich habe Bilder in den Sand gemalt. Und die Frauen aus dem Dorf haben das auch getan. Dann fingen wir an, gemeinsam Bilder zu malen. Eines Tages kamen Materialien zu uns, doch einige der älteren Frauen beschlossen, ihre Bilder wie früher zu machen. Sie zeigten mir, wie sie Steine und kleine Insekten zermahlen, um daraus Farben zu gewinnen und diese Farben aus Pflanzen und Sand mischen.
Danach begann ich, ihnen das Knüpfen beizubringen, auch das Brettchenweben wie zum Beispiel diese Troddeln und mein Gürtel. Und dann haben wir ein paar Vorleger geknüpft. Wir nahmen Ziegen- und Kamelhaar, was immer wir bekommen konnten. Von der Küste kam jemand und brachte uns Muscheln und die Fasern der Schraubenpalme, die wir trockneten und färbten.
Als ich Farouz kennen lernte, war das für mich traurig. Seine Familie stammt aus der Nähe des Dorfes, in dem ich gelebt habe, wir haben ein gemeinsames Familiensymbol: die Sonne. Und doch spricht er nur wenige Worte unserer Sprache und hat keine Erinnerungen an das Dorf. Er ist hier geboren, aber etwas haben wir gemeinsam: unsere Geschichten. Sein Vater hat ihm die alten Geschichten erzählt. Er hat versprochen, dass er mir jemanden bringt. Der mir hilft.
Aber mir kann niemand helfen. Meine Mädchen, meine Familie, mein Zuhause. Sie sind alle fort.
Ein Insekt summte in der Stille. Sami ergriff Leilas Hände, und ihre Blicke trafen sich. Leilas Augen waren trocken, sie konnte nicht mehr weinen. Doch über Samis Gesicht liefen Tränen. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam sie so eng mit einer persönlichen Geschichte von unfassbarem Leid in Berührung. Dabei wusste sie, dass es nur eine von vielen war. Etwas in ihr zersprang. Eine Schale, die ihr weiches, tief innen verborgenes Selbst bisher geschützt hatte, wurde zerschmettert und machte sie verletzlich gegenüber einer neuen Realität. Nichts in Samis eigenem Leben kam ihr vergleichbar schmerzlich vor. Und nach dieser Geschichte verwandelte Sami sich von jemandem, der von anderen verstanden und in seinen kleinen Verletzungen
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