Die Pest (German Edition)
ohne zu wissen, ob sie von seinem jetzigen Glück oder von einem allzu lange unterdrückten Schmerz herrührten; sicher war er sich nur, dass sie ihn davon abhielten nachzuprüfen, ob dieses an seine Schulter geschmiegte Gesicht das war, von dem er so viel geträumt hatte, oder das einer Fremden. Er würde später erfahren, ob sein Argwohn berechtigt war. Vorläufig wollte er sich so verhalten wie all jene ringsum, die zu glauben schienen, die Pest könne kommen und gehen, ohne dass das Herz der Menschen sich deshalb veränderte.
Aneinandergeschmiegt, blind für den Rest der Welt, scheinbar Sieger über die Pest, gingen dann alle nach Hause und vergaßen alles Elend und vergaßen jene, die mit demselben Zug gekommen waren, aber niemanden vorgefunden hatten und sich darauf einstellten, zu Hause die Befürchtungen bestätigt zu bekommen, die ein langes Schweigen schon in ihrem Herzen hatte keimen lassen. Für sie, die jetzt nur ihren ganz frischen Schmerz als Gefährten hatten, für andere, die sich in diesem Augenblick dem Gedenken an einen Verstorbenen hingaben, sah es ganz anders aus, und das Gefühl des Getrenntseins hatte seinen Höhepunkt erreicht. Für sie, Mütter, Gatten, Liebende, die mit dem jetzt unauffindbar in einem Massengrab liegenden oder in einem Häuflein Asche aufgegangenen Menschen jede Freude verloren hatten, herrschte immer noch die Pest.
Aber wer dachte an diese Einsamen? Am Mittag siegte die Sonne über die kalten Ströme, die seit dem Morgen in der Luft kämpften, und ergoss eine ununterbrochene Flut stetigen Lichts über die Stadt. Der Tag stand still. Die Kanonen der Forts oben auf den Hügeln donnerten ohne Unterlass in den unbeweglichen Himmel. Die ganze Stadt stürmte hinaus, um diese zusammengedrängte Minute zu feiern, in der die Zeit der Leiden endete und die Zeit des Vergessens noch nicht angefangen hatte.
Auf allen Plätzen wurde getanzt. Der Verkehr hatte von einem Tag auf den andern erheblich zugenommen, und die zahlreicher gewordenen Autos kamen in den belebten Straßen nur schwer voran. Die Glocken der Stadt läuteten den ganzen Nachmittag mit vollem Schwung. Sie erfüllten einen blaugoldenen Himmel mit ihren Schwingungen. In den Kirchen wurden nämlich Dankgebete gesprochen. Aber gleichzeitig waren die Vergnügungsstätten zum Bersten voll, und in den Cafés wurden, unbekümmert um die Zukunft, die letzten alkoholischen Getränke ausgeschenkt. An ihren Theken drängte sich eine gleichermaßen erregte Menschenmenge und unter ihnen viele engumschlungene Paare, die keine Scheu hatten, sich zur Schau zu stellen. Alle schrien oder lachten. Den Vorrat an Leben, den sie während der Monate angelegt hatten, in denen jeder seine Seele auf kleiner Flamme hatte brennen lassen, gaben sie an diesem einen Tag aus, der gleichsam der Tag ihres Überlebens war. Am nächsten Tag würde das Leben als solches mit seinen Vorsichtsmaßnahmen anfangen. Vorläufig standen Leute sehr unterschiedlicher Herkunft dicht beieinander und verbrüderten sich. Die Gleichheit, die die Gegenwart des Todes nicht wirklich hergestellt hatte, wurde jetzt zumindest für ein paar Stunden von der Freude über die Befreiung geschaffen.
Aber dieser banale Überschwang sagte nicht alles, und die, die gegen Abend mit Rambert die Straßen füllten, verbargen unter einer friedlichen Haltung oft ein zartfühlenderes Glück. Viele Paare und Familien sahen nämlich nicht anders aus als friedliche Spaziergänger. In Wirklichkeit unternahmen die meisten empfindsame Wallfahrten an Stätten, wo sie gelitten hatten. Es ging darum, den Neuangekommenen die auffälligen oder verborgenen Zeichen der Pest, die Spuren ihrer Geschichte zu zeigen. In einigen Fällen begnügten sie sich damit, den Führer zu spielen, den, der viel erlebt hat, den Zeitgenossen der Pest, und sie sprachen von der Gefahr, ohne die Angst zu erwähnen. Diese Vergnügen waren harmlos. In anderen Fällen aber ging es um aufwühlendere Routen, wo ein Liebender sich der süßen Bangigkeit der Erinnerung überlassen und zu seiner Gefährtin sagen konnte: «An dieser Stelle, zu jener Zeit habe ich dich begehrt, und du warst nicht da.» Diese Touristen der Leidenschaft konnten sich dann erkennen: Sie bildeten kleine Inseln von Geflüster und Vertraulichkeiten inmitten des Trubels, durch das sie schritten. Deutlicher als die Musikkapellen auf den Kreuzungen verkündeten sie die wahre Befreiung. Denn diese hingerissenen, engumschlungenen und wortkargen Paare
Weitere Kostenlose Bücher