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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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einem klaren, eisigen Himmel. Im halbdunklen Zimmer spürte man die Kälte, die an die Scheiben drückte, das tiefe, fahle Atmen einer Polarnacht. Neben dem Bett saß Madame Rieux in ihrer gewohnten Haltung; ihre rechte Seite wurde von der Nachttischlampe beleuchtet. In der Mitte des Zimmers, fern vom Licht, saß Rieux wartend in seinem Sessel. Der Gedanke an seine Frau kam ihm, aber er verscheuchte ihn jedes Mal.
    Zu Beginn der Nacht hatten die Absätze der Vorübergehenden hell in der kalten Nacht geklappert.
    «Hast du für alles gesorgt?», hatte Madame Rieux gesagt.
    «Ja, ich habe angerufen.»
    Dann hatten sie weiter schweigend Totenwache gehalten. Hin und wieder sah Madame Rieux ihren Sohn an. Wenn er einen dieser Blicke auffing, lächelte er ihr zu. Auf der Straße folgten die vertrauten Geräusche der Nacht aufeinander. Obwohl die Erlaubnis noch nicht erteilt war, fuhren wieder viele Autos. Sie rauschten schnell über das Pflaster, verschwanden und tauchten dann wieder auf. Stimmen, Rufe, dann wieder Stille, der Hufschlag eines Pferdes, zwei in einer Kurve kreischende Straßenbahnen, undeutliche dumpfe Geräusche, und wieder das Atmen der Nacht.
    «Bernard?»
    «Ja.»
    «Bist du nicht müde?»
    «Nein.»
    Er wusste, was seine Mutter dachte und dass sie ihn in diesem Augenblick liebte. Aber er wusste auch, dass es nicht viel bedeutet, einen Menschen zu lieben, oder zumindest, dass eine Liebe nie stark genug ist, um den ihr gemäßen Ausdruck zu finden. So würden seine Mutter und er sich immer schweigend lieben. Und sie würde ihrerseits sterben – oder er –, ohne dass sie ihr Leben lang einander ihre Zuneigung deutlicher hatten bekennen können. Genauso hatte er neben Tarrou gelebt, und dieser war nun tot, ohne dass ihre Freundschaft Zeit gehabt hätte, wirklich gelebt zu werden. Tarrou hatte, wie er sagte, die Partie verloren. Aber was hatte er, Rieux, gewonnen? Er hatte nur gewonnen, die Pest gekannt zu haben und sich daran zu erinnern, die Freundschaft gekannt zu haben und sich daran zu erinnern, die Zuneigung zu kennen und sich eines Tages daran erinnern zu dürfen. Alles, was der Mensch beim Spiel der Pest und des Lebens gewinnen konnte, waren Erkenntnis und Erinnerung. Vielleicht war es das, was Tarrou die Partie gewinnen nannte!
    Wieder fuhr ein Auto vorbei, und Madame Rieux bewegte sich auf ihrem Stuhl. Rieux lächelte ihr zu. Sie sagte ihm, sie sei nicht müde, und gleich darauf:
    «Du musst dann dort in die Berge fahren und dich erholen.»
    «Natürlich, Mama.»
    Ja, er würde sich dort erholen. Warum nicht? Das wäre auch ein Vorwand für Erinnerungen. Aber wenn das die Partie gewinnen hieß, wie schwer musste es sein, nur mit dem zu leben, was man weiß und woran man sich erinnert, und ohne das, worauf man hofft. So hatte Tarrou wahrscheinlich gelebt, und ihm war bewusst, wie unergiebig ein Leben ohne Illusionen ist. Es gibt keinen Frieden ohne Hoffnung, und Tarrou, der den Menschen das Recht verweigerte, irgendjemanden zu richten, der jedoch wusste, dass niemand umhinkonnte zu richten und dass selbst Opfer manchmal Henker werden können, Tarrou hatte in Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit gelebt, er hatte nie die Hoffnung gekannt. Hatte er deshalb nach Heiligkeit gestrebt und den Frieden im Dienst für die Menschen gesucht? Eigentlich wusste Rieux es nicht, und es war nicht weiter wichtig. Die einzigen Bilder von Tarrou, die er behalten würde, waren das eines Mannes, der beim Fahren mit kräftigen Händen das Steuer seines Wagens umfasste, oder das dieses schweren Körpers, der jetzt regungslos dalag. Ein warmer Hauch des Lebens und ein Bild des Todes, das war die Erkenntnis.
    Wahrscheinlich war dies der Grund dafür, dass Doktor Rieux am Morgen die Nachricht vom Tod seiner Frau ruhig aufnahm. Er war in seinem Büro. Seine Mutter war fast herbeigelaufen gekommen, um ihm ein Telegramm zu bringen, dann war sie hinausgegangen, um dem Boten ein Trinkgeld zu geben. Als sie zurückkam, hielt ihr Sohn das geöffnete Telegramm in der Hand. Sie sah ihn an, aber er betrachtete starr durch das Fenster einen herrlichen Morgen, der sich über dem Hafen erhob.
    «Bernard», sagte Madame Rieux.
    Der Arzt schaute sie zerstreut an.
    «Das Telegramm?», fragte sie.
    «So ist es», gab der Arzt zu. «Vor acht Tagen.»
    Madame Rieux wandte den Kopf zum Fenster. Der Arzt schwieg. Dann sagte er zu seiner Mutter, sie solle nicht weinen, er sei darauf gefasst gewesen, aber es sei trotzdem schwer. Nur wusste er,

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