Die Pest (German Edition)
allmählich in weniger verstopfte Straßen und dachte, es sei nicht wichtig, ob diese Dinge einen Sinn haben oder nicht, dass man nur sehen müsse, was auf die Hoffnung der Menschen geantwortet wird.
Er wusste nunmehr, was geantwortet wird, und er erkannte es in den ersten, fast menschenleeren Straßen der Vorstadt noch deutlicher. Die, die sich an das wenige hielten, was sie waren, und nur gewünscht hatten, in das Haus ihrer Liebe zurückzukehren, wurden manchmal belohnt. Freilich gingen einige von ihnen weiter allein durch die Stadt, einsam und des Menschen beraubt, auf den sie warteten. Jene konnten noch froh sein, die nicht zweimal getrennt worden waren wie manche, die vor der Epidemie ihre Liebe nicht auf Anhieb hatten aufbauen können und sich jahrelang blind um den schwierigen Einklang bemüht hatten, der am Ende feindliche Liebende aneinanderkettet. Diese hatten sich, wie Rieux selbst, leichtfertig auf die Zeit verlassen: Sie waren auf immer getrennt. Aber andere, wie Rambert, von dem der Arzt sich an diesem Morgen mit den Worten verabschiedet hatte: «Nur Mut, es kommt darauf an, jetzt recht zu haben», andere hatten ohne Zögern den Abwesenden, den sie verloren geglaubt hatten, wiedergefunden. Sie würden wenigstens für einige Zeit glücklich sein. Sie wussten jetzt, dass es, wenn überhaupt, etwas gibt, was man immer ersehnen und manchmal bekommen kann, nämlich menschliche Zärtlichkeit.
All jene dagegen, die sich über den Menschen hinaus an etwas gewandt hatten, was sie sich nicht einmal vorstellen konnten, hatten keine Antwort erhalten. Tarrou hatte anscheinend jenen schwierigen Frieden gefunden, von dem er gesprochen hatte, aber er hatte ihn erst im Tod gefunden, in der Stunde, als er ihm nichts nutzen konnte. Wenn hingegen andere, die Rieux im schwindenden Licht auf der Schwelle ihrer Häuser sich mit aller Kraft umarmen und hingerissen anblicken sah, bekommen hatten, was sie wollten, so weil sie das Einzige verlangt hatten, was von ihnen abhing. Und als Rieux in Grands und Cottards Straße einbog, dachte er, es sei gerecht, dass die Freude wenigstens hin und wieder die belohne, die sich mit dem Menschen und seiner armseligen, außerordentlichen Liebe begnügen.
Diese Chronik nähert sich ihrem Ende. Es ist Zeit, dass Doktor Bernard Rieux sich als ihr Verfasser zu erkennen gibt. Aber bevor er die letzten Ereignisse schildert, möchte er doch sein Eingreifen rechtfertigen und erklären, dass er großen Wert darauf gelegt hat, den Ton des objektiven Zeugen anzuschlagen. Während der ganzen Dauer der Pest hat sein Beruf es ihm ermöglicht, mit den meisten seiner Mitbürger zusammenzukommen und ihre Ansicht zu erfahren. Er war also an der richtigen Stelle, um zu berichten, was er gesehen und gehört hatte. Aber er wollte es mit der wünschenswerten Zurückhaltung tun. Ganz allgemein hat er sich bemüht, nicht mehr zu berichten, als er sehen konnte, seinen Gefährten in der Pest keine Gedanken zuzuschreiben, die sie eigentlich nicht unbedingt haben mussten, und nur die Texte zu verwenden, die der Zufall oder das Unglück ihm in die Hände gespielt hatte.
Da er vorgeladen ist, über eine Art Verbrechen auszusagen, hat er eine gewisse Zurückhaltung geübt, wie es sich für einen Zeugen gehört, der guten Willens ist. Aber gleichzeitig hat er, dem Gebot eines anständigen Herzens gehorchend, entschlossen die Partei des Opfers ergriffen und mit den Menschen, seinen Mitbürgern, die einzigen Gewissheiten teilen wollen, die ihnen gemeinsam sind, nämlich die Liebe, das Leid und das Exil. Daher gibt es nicht eine Angst seiner Mitbürger, die er nicht geteilt hätte, keine Situation, die nicht auch die seine gewesen wäre.
Um ein getreuer Zeuge zu sein, musste er vor allem von den Taten, den Dokumenten und den Gerüchten berichten. Aber was er persönlich zu sagen hatte, sein Warten, seine Prüfungen, musste er verschweigen. Wenn er darauf zurückgekommen ist, so nur, um seine Mitbürger besser zu verstehen oder verständlich zu machen und um dem, was sie meistens verworren fühlten, eine möglichst genaue Form zu geben. Offen gestanden ist ihm dieses Bemühen um Vernunft nicht schwergefallen. Wenn er in Versuchung war, Vertrauliches über sich unmittelbar unter die tausend Stimmen der Pestkranken zu mischen, hielt ihn der Gedanke davon ab, dass keines seiner Leiden nicht gleichzeitig auch das der anderen war und dass dies in einer Welt, in der der Schmerz so oft einsam ist, ein Vorteil war. Er
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