Die Pest (German Edition)
genug, dass unsere Mitbürger nicht trotz aller Beunruhigung den Eindruck behielten, es handle sich um einen zweifellos ärgerlichen, aber alles in allem vorübergehenden Zwischenfall.
So waren sie weiter in den Straßen unterwegs und ließen sich auf den Terrassen der Cafés nieder. Insgesamt waren sie nicht feige, wechselten mehr Scherze als Klagen und taten so, als nähmen sie offensichtlich vorübergehende Unannehmlichkeiten gutgelaunt hin. Der Schein blieb gewahrt. Gegen Ende des Monats jedoch, ungefähr während der Betwoche, von der noch die Rede sein wird, verwandelten tiefer gehende Veränderungen das Aussehen unserer Stadt. Zunächst ergriff der Präfekt Maßnahmen, die den Fahrzeugverkehr und die Lebensmittelversorgung betrafen. Die Lebensmittelversorgung wurde eingeschränkt und das Benzin rationiert. Es wurden sogar Stromeinsparungen vorgeschrieben. Nur die unentbehrlichen Produkte gelangten auf dem Land- und Luftweg nach Oran. So konnte man sehen, wie der Verkehr allmählich abnahm, bis er nahezu ganz zum Erliegen kam, wie Luxusgeschäfte von einem Tag auf den andern schlossen und andere Läden Listen von nicht Lieferbarem in ihren Schaufenstern aufstellten, während vor ihren Türen Schlangen von Käufern standen.
So bot Oran einen eigenartigen Anblick. Die Zahl der Fußgänger nahm beträchtlich zu, und sogar während der ruhigen Zeiten füllten viele Leute, die wegen der Schließung der Geschäfte oder bestimmter Büros zur Untätigkeit gezwungen waren, die Straßen und Cafés. Vorläufig waren sie noch nicht arbeitslos, sondern beurlaubt. Oran erweckte damals, zum Beispiel um drei Uhr nachmittags und bei schönem Wetter, den trügerischen Eindruck einer ein Fest feiernden Stadt, deren Verkehr man gesperrt und Geschäfte man geschlossen hat, damit eine öffentliche Veranstaltung stattfinden kann, und deren Einwohner auf die Straßen geströmt sind, um an den Festlichkeiten teilzunehmen.
Natürlich profitierten die Kinos von diesem allgemeinen Urlaub und machten gute Geschäfte. Aber der Kreislauf der Filme im Departement war unterbrochen. Nach Ablauf von zwei Wochen waren die Veranstalter gezwungen, ihre Programme auszutauschen, und einige Zeit darauf führten die Kinos schließlich den immer gleichen Film vor. Trotzdem verringerten sich ihre Einnahmen nicht.
Die Cafés konnten dank der beträchtlichen Vorräte, die in einer Stadt mit dem Schwerpunkt Wein- und Spirituosenhandel gespeichert waren, ihre Gäste ebenfalls bedienen. Ehrlich gesagt wurde viel getrunken. Nachdem ein Café Reklame gemacht hatte, «Guter Wein tötet die Krankheit im Keim», verstärkte sich die in der Allgemeinheit ohnehin verbreitete Auffassung, Alkohol schütze vor Infektionen. Allnächtlich gegen zwei Uhr füllte eine beachtliche Zahl von Betrunkenen, die man aus den Cafés geworfen hatte, die Straßen und lief unter optimistischem Gerede auseinander.
Aber in gewisser Hinsicht waren all diese Veränderungen so ungewöhnlich und so schnell eingetreten, dass es nicht leichtfiel, sie als normal und dauerhaft zu betrachten. Das Ergebnis war, dass wir unsere persönlichen Empfindungen weiterhin in den Vordergrund stellten.
Zwei Tage nachdem die Tore geschlossen worden waren, traf Doktor Rieux beim Verlassen des Krankenhauses Cottard, der eine Miene höchster Befriedigung zeigte. Rieux gratulierte ihm zu seinem Aussehen.
«Ja, mir geht es ausgezeichnet», sagte der kleine Mann. «Sagen Sie mal, Herr Doktor, diese verdammte Pest, das wird allmählich ernst!»
Der Arzt gab es zu. Und der andere stellte mit so etwas wie Heiterkeit fest:
«Es gibt keinen Grund, weshalb sie jetzt aufhören sollte. Alles wird drunter und drüber gehen.»
Sie gingen ein Stück zusammen. Cottard erzählte, ein Großhändler in seinem Viertel habe Lebensmittel gehortet, um sie zu überhöhten Preisen zu verkaufen, und unter seinem Bett seien Konserven entdeckt worden, als man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte. «Dort ist er gestorben. Die Pest, die macht sich nicht bezahlt.» So steckte Cottard voll wahrer oder unwahrer Geschichten über die Epidemie. Es hieß zum Beispiel, im Stadtzentrum sei ein Mann, der alle Anzeichen von Pest zeigte, eines Morgens im Delirium auf die Straße gerannt, habe sich auf die erstbeste Frau gestürzt, habe sie umarmt und dabei geschrien, er habe die Pest.
«Schön!», bemerkte Cottard in einem liebenswürdigen Ton, der nicht zu seiner Behauptung passte. «Wir werden alle verrückt, das ist sicher.»
Am
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