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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Nachmittag desselben Tages hatte auch Joseph Grand Doktor Rieux schließlich Persönliches anvertraut. Er hatte Madame Rieux’ Foto auf dem Schreibtisch entdeckt und hatte den Arzt angesehen. Rieux antwortete, seine Frau mache außerhalb der Stadt eine Kur. «In gewisser Hinsicht ist das ein Glück», hatte Grand gesagt. Der Arzt antwortete, es sei zweifellos ein Glück, und man müsse nur hoffen, dass seine Frau gesund werde.
    «Aha, ich verstehe», sagte Grand.
    Und zum ersten Mal seit Rieux ihn kannte, redete er in einem Zug. Obwohl er wieder seine Wörter suchte, gelang es ihm fast immer, sie zu finden, so als habe er lange über das nachgedacht, was er jetzt gerade sagte.
    Er hatte blutjung ein armes junges Mädchen aus seiner Nachbarschaft geheiratet. Um zu heiraten, hatte er sogar sein Studium abgebrochen und eine Stelle angenommen. Weder Jeanne noch er verließen je ihr Viertel. Er besuchte sie bei ihr zu Hause, und Jeannes Eltern lachten ein bisschen über diesen stillen, linkischen Heiratskandidaten. Der Vater war bei der Eisenbahn. Wenn er keinen Dienst hatte, sah man ihn immer neben dem Fenster in einer Ecke sitzen und nachdenklich das Kommen und Gehen auf der Straße betrachten, seine riesigen Hände flach auf den Schenkeln. Die Mutter war immerzu mit dem Haushalt beschäftigt, und Jeanne half ihr dabei. Sie war so winzig, dass Grand sie nie ohne Angst eine Straße überqueren sehen konnte. Die Fahrzeuge kamen ihm dann unmäßig groß vor. Eines Tages, vor einem weihnachtlichen Geschäft, hatte sich Jeanne, die hingerissen das Schaufenster betrachtete, an ihn geschmiegt und gesagt: «Wie schön!» Er hatte ihr Handgelenk gedrückt. So war die Heirat beschlossen worden.
    Der Rest der Geschichte war, Grand zufolge, sehr einfach. So ergeht es allen: man heiratet, man liebt noch ein bisschen, man arbeitet. Man arbeitet so viel, dass man darüber das Lieben vergisst. Jeanne arbeitete auch, da die Versprechungen des Bürovorstehers nicht gehalten worden waren. Hier war ein wenig Phantasie nötig, um zu verstehen, was Grand sagen wollte. Die Müdigkeit tat ein Übriges, sodass er sich gehengelassen, mehr und mehr geschwiegen und seine junge Frau nicht in der Vorstellung bestärkt hatte, geliebt zu werden. Ein Mann, der arbeitet, die Armut, die langsam verschlossene Zukunft, das abendliche Schweigen bei Tisch – in einer solchen Welt ist kein Raum für Leidenschaft. Wahrscheinlich hatte Jeanne gelitten. Dennoch war sie geblieben: Es kommt vor, dass man lange leidet, ohne es zu merken. Die Jahre waren vergangen. Später war sie gegangen. Natürlich nicht allein. «Ich habe Dich sehr gern gehabt, aber jetzt bin ich müde … Ich bin nicht glücklich, dass ich weggehe, aber man braucht nicht glücklich zu sein, um neu anzufangen.» Das ungefähr hatte sie ihm geschrieben.
    Joseph Grand hatte ebenfalls gelitten. Er hätte neu anfangen können, wie Rieux ihm zu bedenken gab. Aber er glaubte nun einmal nicht daran.
    Nur dachte er immer an sie. Er hätte ihr gern einen Brief geschrieben, um sich zu rechtfertigen. «Aber das ist schwierig», sagte er. «Ich denke schon lange daran. Solange wir uns liebten, haben wir uns ohne Worte verstanden. Aber man liebt sich nicht immer. Irgendwann hätte ich die Worte finden müssen, die sie zurückgehalten hätten, aber ich habe es nicht gekonnt.» Grand schnäuzte sich in eine Art karierte Serviette. Dann wischte er sich den Schnurrbart ab. Rieux sah ihn an.
    «Entschuldigen Sie, Herr Doktor», sagte der Alte, «aber wie soll ich sagen …? Ich vertraue Ihnen. Mit Ihnen kann ich reden. Das geht mir dann nahe.»
    Grand war sichtlich meilenweit von der Pest entfernt.
    Abends telegraphierte Rieux seiner Frau, die Stadt sei geschlossen, es gehe ihm gut, sie solle weiter auf sich aufpassen und er denke an sie.
    Drei Wochen nach der Schließung der Stadt traf Rieux beim Verlassen des Krankenhauses einen jungen Mann, der auf ihn wartete.
    «Ich nehme an, Sie erkennen mich wieder», sagte der.
    Rieux glaubte ihn zu kennen, zögerte aber.
    «Ich war vor diesen Ereignissen bei Ihnen», sagte der andere, «und habe Sie um Auskünfte über die Lebensbedingungen der Araber gebeten. Ich heiße Raymond Rambert.»
    «Ach ja!», sagte Rieux. «Na, jetzt haben Sie ein schönes Thema für eine Reportage.»
    Der andere wirkte nervös. Er sagte, darum gehe es nicht, er sei gekommen, um Doktor Rieux um Hilfe zu bitten.
    «Ich muss mich dafür entschuldigen», fügte er hinzu, «aber ich kenne

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