Die Pest (German Edition)
zurückzuwenden oder im Gegenteil den Gang der Zeit voranzutreiben, diese brennenden Pfeile der Erinnerung. Wenn wir uns manchmal der Phantasie hingaben und uns daran freuten, auf das Klingeln des Heimkehrenden oder einen vertrauten Schritt auf der Treppe zu warten, wenn wir in jenen Augenblicken bereitwillig vergaßen, dass die Züge stillstanden, wenn wir es dann so einrichteten, um die Zeit zu Hause zu bleiben, wenn normalerweise ein mit dem Abendschnellzug Reisender in unserem Viertel eintreffen mochte, so konnten diese Spiele nicht lange dauern. Es trat immer ein Moment ein, in dem uns eindeutig klar wurde, dass die Züge nicht kamen. Dann wussten wir, dass unsere Trennung andauern sollte und dass wir versuchen mussten, uns auf die Zeit einzustellen. Von da an fügten wir uns wieder in unser Gefangensein, waren wir auf unsere Vergangenheit angewiesen, und auch wenn einige von uns versucht waren, in der Zukunft zu leben, gaben sie es schnell auf, wenigstens sofern sie konnten, als sie die Verletzungen spürten, die die Phantasie letztlich denen zufügt, die sich ihr anvertrauen.
Vor allem legten alle unsere Mitbürger sehr schnell, sogar in der Öffentlichkeit, die Gewohnheit ab, die sie angenommen haben mochten, die Dauer ihrer Trennung zu schätzen. Warum? Als die größten Pessimisten sie zum Beispiel auf sechs Monate festgelegt hatten, als sie im Voraus die ganze Bitterkeit dieser kommenden Monate durchgemacht, mit großer Mühe ihren Mut dieser Prüfung angepasst und ihre letzten Kräfte angespannt hatten, um ohne zu wanken auf der Höhe dieses über eine so lange Folge von Tagen ausgedehnten Leids zu bleiben, da brachte sie manchmal ein zufällig getroffener Freund, eine in einer Zeitung geäußerte Meinung, ein flüchtiger Argwohn oder eine plötzliche Einsicht auf die Idee, dass es schließlich keinen Grund gab, warum die Krankheit nicht länger als sechs Monate dauern sollte, vielleicht ein Jahr oder noch länger.
Dann brachen ihr Mut, ihr Wille und ihre Geduld so abrupt zusammen, dass es ihnen vorkam, als könnten sie nie wieder aus diesem Loch herauskommen. Folglich zwangen sie sich, nie an den Zeitpunkt ihrer Erlösung zu denken, sich nicht mehr der Zukunft zuzuwenden und die Augen sozusagen immer gesenkt zu halten. Aber natürlich wurden diese Vorsicht, diese Art, den Schmerz zu überlisten, in Deckung zu gehen, um dem Kampf auszuweichen, schlecht belohnt. Mit dem Vermeiden dieses Zusammenbruchs, den sie um keinen Preis haben wollten, beraubten sie sich nämlich jener, eigentlich recht häufigen Momente, in denen sie in den Bildern ihrer künftigen Wiedervereinigung die Pest vergessen konnten. Und so, auf halbem Wege zwischen diesen Abgründen und diesen Gipfeln gestrandet, schwebten sie mehr als dass sie lebten, richtungslosen Tagen und unfruchtbaren Erinnerungen ausgesetzt, umherirrende Schatten, die nur zu Kräften hätten kommen können, wenn sie bereit gewesen wären, im Boden ihres Schmerzes Wurzeln zu schlagen.
Sie empfanden daher das tiefe Leid aller Gefangenen und Verbannten, mit einer Erinnerung zu leben, die zu nichts nutze ist. Selbst die Vergangenheit, über die sie unentwegt nachsannen, hatte nur den Geschmack der Reue. Sie hätten ihr nämlich alles hinzufügen mögen, was sie zu ihrem Bedauern nicht getan hatten, als sie es noch mit dem oder der, auf die sie warteten, tun konnten – so wie sie den Abwesenden in alle, sogar die verhältnismäßig glücklichen Situationen ihres Gefangenenlebens einbezogen –, und konnten mit dem, was sie waren, nicht zufrieden sein. Unwillig gegenüber der Gegenwart, feindselig gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft beraubt, hatten wir so wirklich Ähnlichkeit mit denen, die die Gerechtigkeit oder der Hass der Menschen hinter Gittern leben lässt. Das einzige Mittel, um dieser unerträglichen Leere zu entrinnen, war schließlich, die Züge in der Phantasie wieder fahren zu lassen und die Stunden mit dem wiederholten Läuten einer Türklingel auszufüllen, die doch beharrlich stumm blieb.
Es war zwar das Exil, in den meisten Fällen aber das Exil bei sich zu Hause. Und obwohl der Erzähler nur das allgemeine Exil erlebt hat, darf er jene, wie den Journalisten Rambert oder andere, nicht vergessen, für die das Leid der Trennung sich dadurch vergrößerte, dass sie, als von der Pest überraschte und in der Stadt festgehaltene Reisende, auf einmal sowohl von dem Menschen, mit dem sie nicht zusammenkommen konnten, als auch von ihrer Heimat
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