Die Pest (German Edition)
feindselig – die Antwort war immer falsch, man musste es aufgeben. Oder zumindest fanden sich diejenigen, für die das Schweigen unerträglich war, damit ab, die überall übliche Sprache anzunehmen und ihrerseits auch im konventionellen Stil zu reden, dem Stil des schlichten Berichts und der vermischten Nachrichten, des täglichen Überblicks gewissermaßen. Auch da gewöhnte man sich an, die echtesten Schmerzen in den nichtssagenden Gesprächsformeln auszudrücken. Nur um diesen Preis konnten die Gefangenen der Pest das Mitgefühl ihrer Concierge oder das Interesse ihrer Zuhörer gewinnen.
Doch, und das ist das Wichtigste, so schmerzlich diese Qualen auch sein mochten, so schwer, obwohl leer, das Herz sein mochte, kann man sagen, dass diese Verbannten im ersten Stadium der Pest Bevorzugte waren. Genau zu der Zeit nämlich, als die Bevölkerung anfing, den Verstand zu verlieren, war ihr Denken ganz und gar auf den Menschen gerichtet, auf den sie warteten. In der allgemeinen Not schützte sie der Egoismus der Liebe, und wenn sie an die Pest dachten, dann nur insoweit, als sie für ihre Trennung die Gefahr mit sich brachte, auf ewig zu sein. So legten sie mitten in der Epidemie eine heilsame Zerstreutheit an den Tag, die man für Kaltblütigkeit halten konnte. Ihre Verzweiflung rettete sie vor der Panik, ihr Unglück hatte etwas Gutes. Wenn zum Beispiel einer von ihnen von der Krankheit hinweggerafft wurde, so geschah es fast immer, ohne dass er darauf achten konnte. Er wurde dann aus diesem langen inneren Gespräch herausgerissen, das er mit einem Schatten führte, und übergangslos in das tiefste Schweigen der Erde geworfen. Er hatte zu nichts mehr Zeit gehabt.
Während unsere Mitbürger versuchten, sich mit diesem plötzlichen Exil abzufinden, stellte die Pest Wachen vor die Tore und leitete die auf Oran zufahrenden Schiffe um. Seit der Schließung war nicht ein Fahrzeug in die Stadt hereingekommen. Von dem Tag an hatte man den Eindruck, die Autos würden sich darauf verlegen, im Kreis zu fahren. Auch der Hafen bot denen, die ihn oben von den Boulevards aus betrachteten, einen erstaunlichen Anblick. Die gewohnte Betriebsamkeit, die ihn zu einem der wichtigsten Häfen der Küste machte, war mit einem Schlag erstorben. Man sah noch einige in Quarantäne gehaltene Schiffe. Aber auf den Kais zeugten große stillgestellte Kräne, auf die Seite gestürzte Loren, vereinzelte Stapel Fässer und Säcke davon, dass auch der Handel an der Pest gestorben war.
Trotz dieses ungewohnten Anblicks fiel es unseren Mitbürgern offensichtlich schwer zu verstehen, was mit ihnen geschah. Es gab die gemeinsamen Gefühle wie Trennung oder Angst, aber die persönlichen Sorgen standen auch weiterhin im Vordergrund. Noch niemand hatte die Krankheit wirklich akzeptiert. Die meisten waren vor allem empfindlich für das, was ihre Gewohnheiten störte oder ihren Interessen schadete. Darüber waren sie gereizt oder verärgert, und das sind keine Gefühle, die man der Pest entgegensetzen konnte. Zum Beispiel war ihre erste Reaktion, die Behörden verantwortlich zu machen. Die Antwort des Präfekten auf die kritischen Äußerungen, die von der Presse aufgegriffen wurden («Könnte man nicht eine Lockerung der vorgesehenen Maßnahmen ins Auge fassen?»), war ziemlich unerwartet. Bis dahin hatten weder die Zeitungen noch die Agentur Ransdoc eine amtliche Mitteilung mit Krankenstatistiken bekommen. Nun übermittelte der Präfekt sie Tag für Tag der Agentur, mit der Bitte, sie wöchentlich bekanntzumachen.
Auch da jedoch reagierte die Öffentlichkeit nicht sofort. Tatsächlich sprach die Meldung, in der dritten Pestwoche habe man dreihundertundzwei Tote gezählt, nicht die Phantasie an. Zum einen waren vielleicht nicht alle an Pest gestorben. Und zum anderen wusste niemand in der Stadt, wie viele Leute in normalen Zeiten pro Woche starben. Die Stadt hatte zweihunderttausend Einwohner. Man wusste nicht, ob diese Rate von Todesfällen normal war. Das ist eben die Art von genaueren Angaben, um die man sich, trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung, nie kümmert. Der Öffentlichkeit fehlten gewissermaßen Vergleichsdaten. Erst auf die Dauer, als sie die Zunahme der Todesfälle feststellte, wurde sich die öffentliche Meinung der Wahrheit bewusst. In der fünften Woche waren es nämlich dreihunderteinundzwanzig Tote und in der sechsten dreihundertfünfundvierzig. Die Zunahme redete immerhin eine deutliche Sprache. Aber sie war nicht stark
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