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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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bösen Engel, welcher einen Jagdspieß trug, Befehle gab, und er befahl ihm, an die Häuser zu schlagen; und so viele Schläge ein Haus bekam, so viele Tote gingen daraus hervor.»
    Hier streckte Paneloux seine kurzen Arme zum Vorhof hin, als zeige er auf etwas hinter dem beweglichen Regenvorhang: «Liebe Brüder», sagte er mit Nachdruck, «die gleiche tödliche Jagd rast heute durch unsere Straßen. Sehet ihn, diesen Engel der Pest, schön wie Lucifer und strahlend wie das Böse selbst, wie er über euren Dächern steht, eine Rechte hält den roten Jagdspieß über seinem Haupt, die Linke weist auf eines eurer Häuser. In diesem Augenblick vielleicht richtet sich sein Finger auf eure Tür, dröhnt der Spieß auf dem Holz; wiederum in diesem Augenblick tritt die Pest bei euch ein, lässt sich in eurem Zimmer nieder und wartet auf eure Rückkehr. Sie ist da, geduldig und aufmerksam, so sicher wie die Weltordnung selbst. Keine irdische Macht und, wohlgemerkt, nicht einmal die eitle menschliche Wissenschaft kann verhindern, dass ihr die Hand ergreift, die sie euch reicht. Und auf der blutigen Tenne des Schmerzes gedroschen, werdet ihr mit der Spreu fortgeworfen werden.»
    Hier nahm der Pater noch einmal ausführlicher das pathetische Bild des Dreschflegels auf. Er beschwor das über der Stadt wirbelnde gewaltige Stück Holz herauf, das willkürlich zuschlägt, sich blutbefleckt weiterdreht und schließlich Blut und menschlichen Schmerz «für eine Aussaat verstreut, die die Ernte der Wahrheit vorbereitet».
    Am Ende seines langen Satzes hielt Pater Paneloux inne; das Haar hing ihm in die Stirn, sein Körper wurde von einem Zittern geschüttelt, das sich über seine Hände auf die Kanzel übertrug; gedämpfter, aber in anklagendem Ton fuhr er fort: «Jawohl, die Stunde des Nachdenkens ist gekommen. Ihr habt geglaubt, es genüge, wenn ihr Gott am Sonntag besucht, um Herr eurer Tage zu sein. Ihr habt geglaubt, ihr könntet mit ein paar Kniefällen eure verbrecherische Sorglosigkeit bei ihm wiedergutmachen. Aber Gott ist nicht lau. Diese lose Beziehung genügte seiner verzehrenden Zuneigung nicht. Er wollte euch länger sehen, das ist seine Art, euch zu lieben, und offen gesagt ist es die einzige Art zu lieben. Des Wartens auf euer Kommen müde, hat er deshalb die Geißel euch heimsuchen lassen, wie sie alle Städte der Sünde heimgesucht hat, seit die Menschen eine Geschichte haben. Nun wisst ihr, was Sünde ist, so wie Kain und seine Söhne es gewusst haben, wie die Menschen vor der Sintflut und in Sodom und Gomorrha, wie Pharao und Hiob und auch alle Verdammten. Und wie all jene es getan haben, so schaut ihr seit dem Tag, da diese Stadt ihre Mauern um euch und um die Geißel geschlossen hat, mit neuen Augen auf die Menschen und die Dinge. Jetzt endlich wisst ihr, dass man zum Wesentlichen kommen muss.»
    Ein feuchter Wind verfing sich jetzt im Kirchenschiff, und die Flammen der Kerzen neigten sich knisternd. Ein schwerer Geruch nach Wachs, Husten, ein Niesen stiegen zu Pater Paneloux auf, der mit einer viel Anerkennung findenden Feinsinnigkeit auf seine Einführung zurückkam und ruhig fortfuhr: «Ich weiß, dass viele von euch sich mit Recht fragen, worauf ich eigentlich hinauswill. Ich will euch zur Wahrheit bringen und euch lehren, euch trotz allem, was ich gesagt habe, zu freuen. Die Zeit ist vorüber, da Ratschläge und eine brüderliche Hand das Richtige waren, um euch zum Guten zu bewegen. Heute ist die Wahrheit ein Befehl. Und der Weg des Heils ist ein roter Spieß, der ihn euch zeigt und euch darauf stößt. Darin, liebe Brüder, tut sich endlich die göttliche Gnade kund, die in jedes Ding das Gute und das Böse, den Zorn und das Mitleid, die Pest und das Heil gelegt hat. Selbst diese Geißel, die euch quält, erhebt euch und weist euch den Weg.
    Vor langer Zeit sahen die Christen Abessiniens in der Pest ein gottgesandtes wirksames Mittel, die Ewigkeit zu erlangen. Die Nicht-Angesteckten wickelten sich in die Laken der Pestkranken, um sicher zu sterben. Gewiss ist diese Heilssucht nicht empfehlenswert. Sie offenbart eine bedauerliche Übereilung, die der Hoffart nahekommt. Man darf es nicht eiliger haben als Gott, und alles, was die unwandelbare Ordnung, die er ein für alle Mal eingerichtet hat, beschleunigen soll, führt zur Ketzerei. Aber immerhin enthält dieses Beispiel eine Lehre. Für uns Aufgeklärtere bringt es nur jenen köstlichen Schimmer von Ewigkeit zur Geltung, der auf dem Grunde eines Leidens

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