Die Pest (German Edition)
die Lösung. Gewaschen, abgetrocknet, mit dem rauen Krankenhaushemd bekleidet, wurde er von Rieux übernommen und dann in einen der Säle gebracht. Man hatte die überdachten Höfe einer Schule nutzen müssen, die jetzt insgesamt fünfhundert Betten enthielt, die fast alle belegt waren. Nachdem Rieux bei der Aufnahme am Morgen, die er selbst leitete, die Kranken geimpft und die Beulen aufgeschnitten hatte, überprüfte er noch die Statistik und ging dann in seine Nachmittagssprechstunde. Abends schließlich machte er seine Hausbesuche und kam spätnachts zurück. In der Nacht zuvor hatte seine Mutter, als sie ihm ein Telegramm von seiner Frau gab, bemerkt, dass seine Hände zitterten.
«Ja», sagte er, «aber wenn ich beständig weitermache, werde ich weniger nervös sein.»
Er war kräftig und widerstandsfähig. Tatsächlich war er noch nicht müde. Aber seine Hausbesuche zum Beispiel wurden unerträglich für ihn. Das epidemische Fieber zu diagnostizieren bedeutete so viel, wie den Kranken schleunigst abholen zu lassen. Dann begann in der Tat die Abstraktion und die Schwierigkeit, denn die Familie des Kranken wusste, dass sie ihn nur geheilt oder tot wiedersehen würde. «Haben Sie Mitleid, Herr Doktor!», sagte Madame Loret, die Mutter des Zimmermädchens aus Tarrous Hotel. Was hieß das? Natürlich hatte er Mitleid. Aber das half niemandem weiter. Man musste telefonieren. Bald ertönte das Bimmeln des Krankenwagens. Anfangs öffneten die Nachbarn ihre Fenster und schauten zu. Später schlossen sie sie eilends. Dann ging es los mit den Kämpfen, den Tränen, dem Überreden, der Abstraktion eben. In diesen von Fieber und Angst überhitzten Wohnungen spielten sich Irrsinnsszenen ab. Aber der Kranke wurde weggebracht. Rieux konnte gehen.
Die ersten Male hatte er sich darauf beschränkt, zu telefonieren und zu anderen Patienten zu eilen, ohne den Krankenwagen abzuwarten. Aber dann hatten die Angehörigen ihre Tür verschlossen, weil sie das Zusammensein mit der Pest einer Trennung vorzogen, deren Ausgang sie jetzt kannten. Unter Schreien, Aufforderungen, Eingriffen der Polizei und später der Streitkräfte wurde der Kranke im Sturm genommen. In den ersten Wochen war Rieux gezwungen gewesen, bis zur Ankunft des Krankenwagens zu bleiben. Dann, als jeder Arzt bei seinen Hausbesuchen von einem freiwilligen Aufseher begleitet wurde, konnte Rieux von einem Kranken zum nächsten eilen. Aber anfänglich waren alle Abende wie jener, als er in Madame Lorets kleiner, mit Fächern und künstlichen Blumen geschmückten Wohnung von der Mutter begrüßt wurde, die verzerrt lächelnd zu ihm sagte:
«Ich hoffe, es ist nicht das Fieber, von dem alle sprechen.»
Und er hob die Bettdecke und das Hemd an und betrachtete schweigend die roten Flecken auf dem Unterleib und den Schenkeln, die Schwellung der Lymphknoten. Die Mutter schaute zwischen die Beine ihrer Tochter und schrie, ohne sich beherrschen zu können. Jeden Abend heulten Mütter so, mit abstraktem Ausdruck, angesichts von Unterleibern, die sich mit all ihren Todesmalen darboten, jeden Abend klammerten sich Arme an Rieux’ Arme, überstürzten sich sinnlose Worte, Versprechungen und Tränen, jeden Abend lösten bimmelnde Krankenwagen Krisen aus, die so vergeblich waren wie aller Schmerz. Und am Ende dieser langen Folge von immer gleichen Abenden konnte Rieux nichts anderes erwarten als eine lange Folge gleichartiger, endlos sich wiederholender Szenen. Ja, die Pest war, wie die Abstraktion, eintönig. Nur eines vielleicht änderte sich, und das war Rieux selbst. Er spürte es an jenem Abend, am Fuß des Denkmals der Republik, als er sich der mühsam erreichbaren Gleichgültigkeit bewusst wurde, die ihn zu erfüllen begann, während er immer noch die Hoteltür ansah, in der Rambert verschwunden war.
Nach diesen aufreibenden Wochen, nach all diesen Abenddämmerungen, da die Stadt sich in die Straßen ergoss, um sich dort im Kreis zu bewegen, begriff Rieux, dass er sich nicht mehr gegen das Mitleid zu wehren brauchte. Man wird des Mitleids müde, wenn es nutzlos ist. Und im Gefühl dieses langsam sich verschließenden Herzens fand der Arzt die einzige Entlastung von diesen zermürbenden Tagen. Er wusste, dass es seine Aufgabe erleichtern würde. Deshalb freute er sich darüber. Als seine Mutter ihn um zwei Uhr morgens empfing und sich wegen des leeren Blicks grämte, mit dem er sie ansah, bedauerte sie gerade den einzigen Trost, den Rieux in diesem Augenblick bekommen konnte.
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