Die Pest (German Edition)
Um gegen die Abstraktion zu kämpfen, muss man ihr ein wenig ähneln. Doch wie könnte Rambert das einsehen? Für Rambert war die Abstraktion all das, was sich seinem Glück entgegenstellte. Und eigentlich wusste Rieux, dass der Journalist in gewisser Hinsicht recht hatte. Aber er wusste auch, dass die Abstraktion sich manchmal als stärker erweist als das Glück und dass man sie dann, und nur dann, berücksichtigen muss. Eben das sollte Rambert erleben, und der Arzt konnte es in allen Einzelheiten den vertraulichen Mitteilungen entnehmen, die Rambert ihm später machte. So konnte er auf einer neuen Ebene diese Art düsteren Kampf zwischen dem Glück des Einzelnen und den Abstraktionen der Pest verfolgen, der während dieses langen Zeitraums das ganze Leben unserer Stadt ausmachte.
Doch was für die einen Abstraktion war, war für andere die Wahrheit. Das Ende des ersten Pestmonats wurde nämlich verdüstert durch eine deutliche Verschlimmerung der Epidemie und eine eifernde Predigt des Jesuitenpaters Paneloux, der dem alten Michel beim Ausbruch seiner Krankheit beigestanden hatte. Pater Paneloux hatte sich schon durch häufige Mitarbeit beim Blatt der Geographischen Gesellschaft von Oran hervorgetan, in der er es dank seiner Rekonstruktion von Inschriften zu Ansehen gebracht hatte. Aber ein breiteres Publikum, als ein Spezialist es findet, hatte er mit einer Vortragsreihe über den modernen Individualismus erreicht. Darin war er leidenschaftlich für ein anspruchsvolles Christentum eingetreten, das der modernen Freidenkerei gleich fernstand wie dem Obskurantismus. Bei dieser Gelegenheit hatte er seine Zuhörer nicht mit harten Wahrheiten verschont. Daher sein Ruf.
Gegen Ende jenes Monats beschlossen die Kirchenbehörden unserer Stadt nun, mit ihren eigenen Mitteln gegen die Pest zu kämpfen, indem sie eine Woche gemeinsamen Betens veranstalteten. Diese öffentlichen Bekundungen der Frömmigkeit sollten am Sonntag mit einer Messe und der Anrufung des Pestheiligen Sankt Rochus enden. Man hatte Pater Paneloux gebeten, bei diesem Anlass das Wort zu ergreifen. Der hatte sich seit etwa vierzehn Tagen von seiner Arbeit über Augustinus und die afrikanische Kirche losgerissen, die ihm in seinem Orden eine Sonderstellung eingebracht hatte. Hitzig und leidenschaftlich, wie er war, hatte er den Auftrag, mit dem man ihn betraute, entschlossen angenommen. Schon lange vorher wurde von dieser Predigt gesprochen, und sie stellte auf ihre Weise ein wichtiges Ereignis in der Geschichte jener Zeit dar.
Die Betwoche wurde von zahlreichen Teilnehmern besucht. Nicht dass die Einwohner von Oran normalerweise besonders fromm gewesen wären. Sonntagmorgens zum Beispiel macht das Baden im Meer der Messe ernsthaft Konkurrenz. Es war auch nicht so, dass eine plötzliche Bekehrung sie erleuchtet hätte. Aber da die Stadt geschlossen und der Hafen gesperrt waren, war einerseits das Baden nicht mehr möglich, und andererseits befanden sie sich in einer außergewöhnlichen Verfassung, in der sie, ohne die überraschenden Ereignisse, die über sie hereingebrochen waren, innerlich akzeptiert zu haben, natürlich genau spürten, dass etwas anders geworden war. Viele hofften jedoch immer noch, die Epidemie werde aufhören und sie und ihre Familie verschonen. Infolgedessen fühlten sie sich noch zu nichts verpflichtet. Die Pest war für sie nur ein unangenehmer Besuch, der eines Tages gehen musste, wie er gekommen war. Erschreckt, aber nicht verzweifelt, war für sie der Augenblick noch nicht gekommen, in dem die Pest ihnen als ihre Lebensform schlechthin erscheinen sollte und sie das Leben vergessen würden, das sie bis dahin geführt hatten. Genaugenommen warteten sie ab. In Bezug auf die Religion wie auf viele andere Probleme hatte die Pest bei ihnen eine eigenartige, der Gleichgültigkeit wie der Leidenschaft ebenso ferne Geisteshaltung hervorgebracht, die ganz gut mit dem Wort «Objektivität» definiert werden konnte. Die meisten von denen, die an der Betwoche teilnahmen, hätten sich zum Beispiel der Äußerung angeschlossen, die einer der Gläubigen Doktor Rieux gegenüber machen sollte: «Das kann jedenfalls nicht schaden.» Und nachdem Tarrou in sein Tagebuch geschrieben hatte, dass die Chinesen in einem solchen Fall vor dem Dämon der Pest das Tamburin schlagen, bemerkte sogar er, man könne unmöglich wissen, ob das Tamburin nicht tatsächlich wirksamer sei als die Vorbeugungsmaßnahmen. Er fügte nur hinzu, dass man, um die
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