Die Pest (German Edition)
ruht. Von ihm, von diesem Schimmer werden die dämmrigen Wege erhellt, die zur Erlösung führen. Er tut den göttlichen Willen kund, der nie versagend Böses in Gutes verwandelt. Auch heute noch führt er uns über dieses Wandeln im Tod, in Ängsten und Schreien zur wirklichen Stille und zum Ursprung allen Lebens. Das, liebe Brüder, ist der unermessliche Trost, den ich euch bringen wollte, damit ihr nicht nur züchtigende Reden von hier mitnehmt, sondern auch ein tröstliches Wort.»
Man spürte, dass Paneloux geendet hatte. Draußen hatte der Regen aufgehört. Ein aus Wasser und Sonne gemischter Himmel goss ein frischeres Licht auf den Platz. Von der Straße her ertönten Stimmen, das Vorbeirauschen von Fahrzeugen, die ganze Sprache einer erwachenden Stadt. In einem gedämpften Hin und Her nahmen die Zuhörer leise ihre Sachen an sich. Der Pater ergriff jedoch noch einmal das Wort und sagte, nachdem er den göttlichen Ursprung der Pest und das Strafende dieser Geißel aufgezeigt habe, sei er am Ende und wolle sich in seinen Schlussworten einer Redekunst enthalten, die bei einer so tragischen Angelegenheit unangebracht sei. Ihm scheine es, dass allen alles klar sein müsse. Er erinnerte nur daran, dass anlässlich der großen Pest von Marseille der Chronist Mathieu Marais sich beklagt habe, es sei die Hölle, so ohne Beistand und Hoffnung zu leben. Nun, Mathieu Marais war blind! Pater Paneloux hatte im Gegenteil nie mehr denn heute den göttlichen Beistand und die christliche Hoffnung verspürt, die allen geboten wurden. Er hoffte wider alle Hoffnung, dass unsere Mitbürger trotz des Grauens dieser Tage und der Schreie der Sterbenden das einzige Wort an den Himmel richten würden, das christlich sei, nämlich das Wort der Liebe. Gott werde das Übrige tun.
Ob diese Predigt eine Wirkung auf unsere Mitbürger hatte, ist schwer zu sagen. Monsieur Othon, der Untersuchungsrichter, bekannte Doktor Rieux gegenüber, er habe Pater Paneloux’ Ausführungen «absolut unwiderlegbar» gefunden. Aber nicht alle hatten eine so entschiedene Meinung. Nur wurde manchen durch die Predigt der bis dahin verschwommene Gedanke deutlicher, dass sie für ein unbekanntes Verbrechen zu einer unvorstellbaren Gefangenschaft verurteilt waren. Und während die einen weiter dahinlebten und sich dem Eingesperrtsein anpassten, waren andere von da an nur noch von dem Gedanken beherrscht, aus diesem Gefängnis zu fliehen.
Zuerst hatten die Leute es hingenommen, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, wie sie jede andere vorübergehende Unannehmlichkeit hingenommen hätten, die sie nur in einigen ihrer Gewohnheiten störte. Aber plötzlich im Bewusstsein einer Art Freiheitsberaubung und unter der Glocke des Himmels, an dem der Sommer zu knistern begann, spürten sie undeutlich, dass dieses Eingeschlossensein ihr ganzes Leben bedrohte, und wenn es Abend wurde, riss ihre mit der Kühle zurückgekehrte Energie sie mitunter zu Verzweiflungstaten hin.
Zunächst einmal verbreitete sich in unserer Stadt von diesem Sonntag an, ob nun infolge eines zufälligen Zusammentreffens oder nicht, eine so allgemeine und so tiefe Angst, dass man vermuten konnte, unsere Mitbürger würden sich allmählich wirklich ihrer Lage bewusst. Dadurch wurde die Atmosphäre in unserer Stadt ein wenig verändert. Aber die Frage war, ob die Veränderung nur atmosphärisch war oder in den Herzen stattfand.
Wenige Tage nach der Predigt stieß Rieux, der auf dem Weg in die Vorstädte mit Grand dieses Ereignis besprach, im Dunkeln mit einem vor ihnen herumhampelnden Mann zusammen, der gar nicht versuchte, voranzukommen. Im selben Augenblick leuchteten plötzlich die Lampen unserer Stadt auf, die immer später angingen. Die hohe Lampe hinter den Spaziergängern beleuchtete jäh den Mann, der mit geschlossenen Augen lautlos vor sich hin lachte. Über sein weißliches, von einer stummen Heiterkeit verzerrtes Gesicht lief in großen Tropfen der Schweiß. Sie gingen an ihm vorbei.
«Ein Irrer», sagte Grand.
Rieux, der den Angestellten am Arm gefasst hatte, um ihn weiterzuziehen, spürte, dass dieser vor Aufregung zitterte.
«Bald wird es nur noch Irre in unseren Mauern geben», sagte Rieux.
Durch die Müdigkeit verstärkt, hatte er das Gefühl, seine Kehle sei ausgetrocknet.
«Gehen wir etwas trinken.»
In dem kleinen Café, das sie betraten und das von einer einzigen Lampe über der Theke beleuchtet war, sprachen die Leute in der dicken, rötlichen Luft ohne
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