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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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ersichtlichen Grund leise. An der Theke bestellte Grand zur Überraschung des Arztes einen Schnaps, den er in einem Zug austrank und als stark bezeichnete. Dann wollte er wieder gehen. Draußen kam es Rieux vor, als sei die Nacht voller Seufzer. Irgendwo am dunklen Himmel, über den Laternenmasten, erinnerte ihn ein dumpfes Pfeifen an den unsichtbaren Dreschflegel, der unermüdlich durch die heiße Luft wirbelte.
    «Zum Glück, zum Glück», sagte Grand.
    Rieux fragte sich, was er meinte.
    «Zum Glück», sagte der andere, «habe ich meine Arbeit.»
    «Ja», sagte Rieux, «das ist ein Vorteil.»
    Und entschlossen, das Pfeifen zu überhören, fragte er Grand, ob er mit dieser Arbeit zufrieden sei.
    «Nun, ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg.»
    «Haben Sie noch lange daran zu tun?»
    Grand schien lebhafter zu werden, die Wärme des Schnapses ging in seine Stimme über.
    «Ich weiß nicht. Aber darum geht es nicht, Herr Doktor, nein, darum geht es nicht.»
    Im Dunkeln ahnte Rieux, dass Grand mit den Armen fuchtelte. Er schien etwas vorzubereiten, was mit plötzlicher Beredsamkeit herauskam:
    «Wissen Sie, Herr Doktor, ich möchte nämlich, dass an dem Tag, wenn das Manuskript bei dem Verleger ankommt, der nach der Lektüre aufsteht und zu seinen Mitarbeitern sagt: ‹Meine Herren, Hut ab!›»
    Diese unvermittelte Erklärung überraschte Rieux. Es kam ihm so vor, als mache sein Begleiter die Geste des Hutlüftens, indem er die Hand zum Kopf hob und den Arm waagerecht schwenkte. Das seltsame Pfeifen oben schien noch lauter wiedereinzusetzen.
    «Ja», sagte Grand, «es muss vollkommen sein.»
    Obwohl Rieux mit den Bräuchen in der Literatur wenig vertraut war, hatte er doch den Eindruck, dass es dort wohl nicht so simpel zugehe und dass zum Beispiel die Verleger ohne Hut in ihrem Büro säßen. Aber tatsächlich konnte man ja nie wissen, und so schwieg Rieux lieber. Gegen seinen Willen lauschte er dem geheimnisvollen Tosen der Pest. Sie näherten sich Grands Viertel, und da es etwas höher lag, erfrischte sie eine leichte Brise, die gleichzeitig die Stadt von all ihren Geräuschen reinigte. Grand redete unterdessen weiter, und Rieux begriff nicht alles, was der kleine Mann sagte. Er verstand nur, dass das fragliche Werk schon viele Seiten umfasste, dass aber die Qual, es zur Vollendung zu bringen, für seinen Verfasser sehr schmerzhaft sei. «Ganze Abende, ganze Wochen für ein Wort … und manchmal ein einfaches Bindewort.» Hier blieb Grand stehen und fasste den Arzt bei einem Knopf seines Mantels. Die Wörter kamen aus seinem fast zahnlosen Mund gestolpert.
    «Verstehen Sie recht, Herr Doktor. Allenfalls ist es ja ziemlich leicht, zwischen aber und und zu wählen. Schwieriger wird es schon bei und und dann. Bei dann und darauf nimmt die Schwierigkeit noch zu. Aber am schwierigsten ist mit Sicherheit zu wissen, ob man und schreiben soll oder nicht.»
    «Ja», sagte Rieux, «ich verstehe.»
    Und er ging weiter. Der andere schien verwirrt, schloss sich ihm aber wieder an.
    «Entschuldigen Sie», stotterte er. «Ich weiß nicht, was heute Abend mit mir los ist!»
    Rieux schlug ihm leicht auf die Schulter und sagte, er würde ihm gern helfen und seine Geschichte interessiere ihn sehr. Grand schien wieder etwas beruhigt, und als sie vor seinem Haus angekommen waren, schlug er dem Arzt nach kurzem Zögern vor, einen Augenblick mit hinaufzukommen. Rieux nahm an.
    Im Esszimmer forderte Grand ihn auf, sich an einen Tisch zu setzen, auf dem lauter Blätter mit einer mikroskopisch kleinen Schrift voller Streichungen lagen.
    «Ja, das ist es», sagte Grand dem Arzt, der ihn fragend ansah. «Möchten Sie etwas trinken? Ich habe ein bisschen Wein.»
    Rieux lehnte ab. Er sah sich die Blätter an.
    «Sehen Sie nicht hin», sagte Grand. «Das ist mein erster Satz. Er macht mir Mühe, viel Mühe.»
    Auch er betrachtete all diese Blätter, und seine Hand schien unwiderstehlich von einem angezogen, das er vor die durchscheinende Glühbirne ohne Schirm hielt. Das Blatt zitterte in seiner Hand. Rieux bemerkte, dass die Stirn des Angestellten feucht war.
    «Setzen Sie sich», sagte er, «und lesen Sie mir vor.»
    Der andere sah ihn an und lächelte mit so etwas wie Dankbarkeit.
    «Ja», sagte er, «ich glaube, ich habe Lust dazu.»
    Er wartete ein wenig und sah noch immer das Blatt an, dann setzte er sich. Rieux hörte gleichzeitig auf eine Art wirren Summens, das in der Stadt dem Pfeifen des Dreschflegels zu antworten schien. Genau

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