Die Pest (German Edition)
Frage entscheiden zu können, über das Vorhandensein eines Pestdämons unterrichtet sein müsse und dass unsere Unwissenheit in diesem Punkt alle Meinungen, die man dazu haben mochte, zu leerem Stroh mache.
Die Kathedrale unserer Stadt war jedenfalls während der ganzen Woche fast voll besetzt mit Gläubigen. An den ersten Tagen blieben noch viele Einwohner in den Palmen- und Granatbaumgärten vor dem Säulenvorbau, um der Flut von Anrufungen und Gebeten zu lauschen, die bis auf die Straße drangen. Nach und nach entschlossen sich dieselben Zuhörer, vom Beispiel der anderen ermuntert, einzutreten und mit schüchterner Stimme in den Wechselgesang der Gemeinde einzustimmen. Und am Sonntag strömten Scharen von Menschen in das Kirchenschiff und standen bis in den Vorhof und auf den obersten Treppenstufen. Seit dem Vortag hatte sich der Himmel verdunkelt, und es regnete in Strömen. Die draußen Stehenden hatten ihre Regenschirme aufgespannt. Ein Geruch von Weihrauch und feuchtem Stoff schwebte in der Kathedrale, als Pater Paneloux auf die Kanzel stieg.
Er war mittelgroß, aber stämmig. Als er sich auf den Rand der Kanzel stützte und das Holz mit seinen derben Händen umschloss, sah man von ihm nur eine mächtige schwarze Gestalt und darüber die zwei hochroten Flecken seiner Wangen unter der Stahlbrille. Er hatte eine kräftige, leidenschaftliche Stimme, die weit trug, und als er einen einzigen heftigen, gehämmerten Satz losließ, ging bis auf den Vorhof hinaus ein Ruck durch die Gemeinde: «Liebe Brüder, ihr seid im Unglück, liebe Brüder, ihr habt es verdient.»
Was folgte, schien logisch nicht zu diesem pathetischen Anfang zu passen. Erst im Verlauf der Rede begriffen unsere Mitbürger, dass der Pater mit einem geschickten rhetorischen Kniff in einem einzigen Satz, gleichsam einen Schlag versetzend, das Thema seiner ganzen Predigt vorgegeben hatte. Gleich nach diesem Satz nämlich zitierte Paneloux den Text über den Auszug aus Ägypten und die dortige Pest und sagte: «Das erste Mal tritt diese Geißel in der Geschichte auf, um die Feinde Gottes heimzusuchen. Pharao widersetzt sich den Plänen des Ewigen, und darauf zwingt die Pest ihn auf die Knie. Seit allem Anbeginn der Geschichte wirft die Geißel Gottes die Hoffärtigen und die Verblendeten zu seinen Füßen nieder. Bedenket das und fallt auf die Knie.»
Der Regen draußen wurde stärker, und dieser letzte Satz – in eine absolute Stille hinein gesprochen, die durch das Prasseln des Wolkenbruchs gegen die Kirchenfenster noch vertieft wurde – hallte mit solchem Nachdruck wider, dass einige Zuhörer nach einer Sekunde des Zögerns von ihrem Stuhl auf das Betpult rutschten. Andere meinten ihrem Beispiel folgen zu müssen, sodass nach und nach, ohne ein anderes Geräusch als das Knacken einiger Stühle, bald die ganze Gemeinde kniete. Da richtete Paneloux sich auf, atmete tief und fuhr immer eindringlicher werdend fort: «Wenn die Pest heute euch betrifft, so, weil der Augenblick zum Nachdenken gekommen ist. Die Gerechten brauchen sich nicht davor zu fürchten, aber die Bösen haben Grund zu zittern. In der unermesslichen Scheuer des Universums wird der erbarmungslose Dreschflegel das menschliche Korn schlagen, bis die Spreu vom Weizen getrennt ist. Es wird mehr Spreu als Weizen geben, mehr vor den Richter Geladene als Auserwählte, und dieses Unheil ist nicht von Gott gewollt. Allzu lange hat diese Welt sich mit dem Bösen abgefunden, allzu lange hat sie sich auf die göttliche Gnade verlassen. Es genügte zu bereuen, und alles war erlaubt. Und was die Reue anging, so fühlte sich jeder stark. Wenn es so weit war, würde man sie schon empfinden. Bis dahin war es am einfachsten, sich gehenzulassen, die göttliche Gnade würde das Übrige tun. Nun, das konnte nicht so weitergehen. Gott, der sein erbarmendes Antlitz so lange über die Menschen dieser Stadt neigte, hat, des Wartens müde, in seiner ewigen Hoffnung enttäuscht, seinen Blick abgewandt. Des göttlichen Lichtes beraubt, sind wir nun für lange Zeit in die Finsternis der Pest gehüllt!»
Im Kirchenraum schnaubte jemand wie ein ungeduldiges Pferd. Nach einer kurzen Pause fuhr der Pater leiser fort: «In der Goldenen Legende steht, dass Italien zur Zeit des Königs Humbert, in der Lombardei, von einer so schweren Pest heimgesucht wurde, dass es kaum genug Lebende gab, um die Toten zu begraben, und diese Pest wütete vor allem in Rom und in Pavia. Und ein guter Engel ward sichtbar, der dem
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