Die Pest (German Edition)
in diesem Moment nahm er mit außergewöhnlicher Schärfe diese Stadt wahr, die unter ihm lag, die geschlossene Welt, die sie bildete, und das schreckliche Geheul, das sie im Dunkeln erstickte. Grands Stimme erhob sich gedämpft: «An einem schönen Morgen im Mai ritt eine elegante Amazone auf einer herrlichen Fuchsstute durch die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.» Die Stille kehrte wieder ein und mit ihr das undeutliche Tosen der leidenden Stadt. Grand hatte das Blatt hingelegt und sah es weiter an. Nach einer Weile blickte er auf:
«Was halten Sie davon?»
Rieux antwortete, dieser Anfang mache ihn neugierig darauf, wie es weiterginge. Aber der andere sagte lebhaft, das sei nicht der richtige Gesichtspunkt. Er schlug mit der flachen Hand auf seine Blätter.
«Das ist nur eine Annäherung. Wenn ich es geschafft habe, das Bild, das ich im Kopf habe, vollkommen wiederzugeben, wenn mein Satz genau das Tempo dieses Ausritts im Trab hat, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei, wird das Übrige leichter, und vor allem wird die Illusion von Anfang an so stark sein, dass man sagen kann: ‹Hut ab!›»
Aber bis dahin hatte er noch viel zu tun. Er wäre nie bereit, diesen Satz, so wie er war, einem Drucker zu überlassen. Denn trotz der Befriedigung, die er ihm manchmal verschaffte, war ihm klar, dass er noch nicht ganz und gar mit der Wirklichkeit übereinstimmte und dass er bis zu einem gewissen Grad eine Glätte im Ton aufwies, die eine wenn auch ferne Verwandtschaft mit einem Klischee hatte. Das war wenigstens der Sinn dessen, was er sagte, als man Menschen unter den Fenstern vorbeilaufen hörte. Rieux stand auf.
«Sie werden sehen, was ich daraus mache», sagte Grand, und zum Fenster gewandt fügte er hinzu: «Wenn das alles vorbei ist.»
Aber wieder wurden überstürzte Schritte laut. Rieux ging schon hinunter, und als er auf der Straße war, kamen zwei Männer an ihm vorbei. Wahrscheinlich gingen sie zu den Stadttoren. Manche unserer Mitbürger hatten sich nämlich, von der Hitze und der Pest kopflos geworden, schon zu Gewalttaten hinreißen lassen und hatten versucht, die Wache an den Sperren zu überlisten, um aus der Stadt zu fliehen.
Andere, wie Rambert, versuchten ebenfalls dieser Atmosphäre aufkommender Panik zu entfliehen, aber mit mehr Beharrlichkeit und Geschick, wenn auch nicht mehr Erfolg. Rambert hatte zunächst seine offiziellen Schritte fortgesetzt. Wie er sagte, hatte er immer geglaubt, Beharrlichkeit setze sich am Ende gegen alles durch, und in gewisser Hinsicht gehöre es ja zu seinem Beruf, sich zu helfen zu wissen. Also hatte er eine ganze Menge Beamte und Leute aufgesucht, deren Kompetenz normalerweise nicht in Frage stand. Aber im vorliegenden Fall nützte ihnen diese Kompetenz nichts. Meistens waren es Männer, die genaue und wohlgeordnete Vorstellungen von allem hatten, was das Bankwesen oder den Export oder Zitrusfrüchte oder auch den Weinhandel betraf; die unbestreitbare Kenntnisse in Prozessangelegenheiten oder Versicherungsfragen besaßen, ganz abgesehen von den gediegenen Diplomen und einem offensichtlichen guten Willen. Ihr guter Wille war sogar das, was am meisten an ihnen auffiel. Aber in Sachen Pest waren ihre Kenntnisse fast gleich null.
Dennoch hatte Rambert bei jedem Einzelnen, und wann immer es möglich gewesen war, seine Sache vertreten. Sein Hauptargument war, dass er fremd in unserer Stadt sei und sein Fall folglich gesondert überprüft werden müsse. Im Allgemeinen gaben die Gesprächspartner des Journalisten dies bereitwillig zu. Doch wandten sie gewöhnlich ein, das treffe auch auf eine bestimmte Zahl anderer Leute zu, und demnach sei sein Fall nicht so besonders, wie er denke. Mochte Rambert darauf auch antworten, das ändere nichts am Grundsätzlichen seines Arguments, so wurde ihm erwidert, das ändere aber etwas an den verwaltungsmäßigen Schwierigkeiten bei jeder bevorzugenden Maßnahme, mit der man Gefahr laufe, das zu schaffen, was man mit einem Ausdruck großen Widerwillens Präzedenzfall nannte. Nach der Klassifizierung, die Rambert Doktor Rieux unterbreitete, fielen diese Art Rechthaber unter die Kategorie der Formalisten. Daneben gab es noch die Schönredner, die dem Bittsteller versicherten, das alles könne nicht lange dauern, und die, wenn man Entscheidungen von ihnen verlangte, freigebig gute Ratschläge erteilten und Rambert mit dem Bescheid trösteten, es handle sich nur um eine vorübergehende Unannehmlichkeit. Außerdem gab es die
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