Die Pest (German Edition)
wird. Vorerst sind da die Kranken, und sie müssen geheilt werden. Danach werden sie nachdenken und ich auch. Aber das Dringendste ist, sie zu heilen. Ich verteidige sie, so gut ich kann, das ist alles.»
«Gegen wen?»
Rieux wandte sich zum Fenster. An einer dichteren Dunkelheit des Horizonts erahnte er in der Ferne das Meer. Er spürte nur seine Müdigkeit und kämpfte gleichzeitig gegen einen plötzlichen, unsinnigen Wunsch, sich diesem eigenartigen, aber, wie er fühlte, brüderlichen Mann etwas mehr anzuvertrauen.
«Ich habe keine Ahnung, Tarrou, ich schwöre Ihnen, dass ich keine Ahnung habe. Als ich diesen Beruf ergriffen habe, geschah es gewissermaßen abstrakt, weil ich einen brauchte, weil es eine Stellung wie alle anderen war, eine von denen, die junge Leute sich zum Ziel setzen. Vielleicht auch, weil es besonders schwierig für einen Arbeitersohn wie mich war. Und dann musste man sterben sehen. Wissen Sie, dass es Leute gibt, die sich weigern zu sterben? Haben Sie je eine Frau im Sterben ‹Niemals!› schreien hören? Ich schon. Und dann ist mir klargeworden, dass ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war jung, und mein Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selbst zu richten. Seitdem bin ich bescheidener geworden. Nur habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. Mehr weiß ich nicht. Aber schließlich …»
Rieux verstummte und setzte sich wieder. Er merkte, dass sein Mund trocken war.
«Schließlich?», sagte Tarrou leise.
«Schließlich …», fuhr der Arzt fort, zögerte wieder und sah Tarrou aufmerksam an, «ist es etwas, was ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr, aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, dass man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt.»
«Ja, das kann ich verstehen», stimmte Tarrou zu. «Aber Ihre Siege werden immer vorläufig sein, das ist alles.»
Rieux schien sich zu verdüstern.
«Immer, das weiß ich. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben.»
«Nein, das ist kein Grund. Aber ich kann mir jetzt vorstellen, was diese Pest für Sie bedeuten muss.»
«Ja», sagte Rieux. «Eine Niederlage ohne Ende.»
Tarrou sah den Arzt einen Augenblick starr an, dann stand er auf und ging mit schweren Schritten zur Tür. Und Rieux folgte ihm. Er war schon bei ihm, als Tarrou, der seine Füße anzusehen schien, zu ihm sagte:
«Wer hat Ihnen das alles beigebracht, Herr Doktor?»
Die Antwort kam sofort:
«Das Elend.»
Rieux öffnete die Tür seines Arbeitszimmers und sagte im Flur zu Tarrou, er gehe auch hinunter, da er noch einen seiner Kranken in der Vorstadt besuchen wolle. Tarrou schlug vor, ihn zu begleiten, und der Arzt war einverstanden. Am Ende des Flurs begegneten sie Madame Rieux, der der Arzt Tarrou vorstellte.
«Ein Freund», sagte er.
«Oh, ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen», sagte Madame Rieux.
Als sie ging, drehte sich Tarrou noch einmal nach ihr um. Im Treppenhaus versuchte der Arzt vergeblich, die Beleuchtung einzuschalten. Die Treppe blieb in Dunkelheit getaucht. Der Arzt fragte sich, ob das die Folge einer neuen Sparmaßnahme sei. Aber man konnte es nicht wissen. Schon seit einiger Zeit ging in den Häusern und in der Stadt alles kaputt. Vielleicht nur, weil die Conciergen und unsere Mitbürger im Allgemeinen sich um nichts mehr kümmerten. Aber der Arzt hatte keine Zeit, sich weiter Fragen zu stellen, denn hinter ihm ertönte Tarrous Stimme:
«Noch ein Wort, Herr Doktor, auch wenn Sie es lächerlich finden: Sie haben völlig recht.»
Rieux zuckte für sich, im Dunkeln, die Achseln.
«Ich habe keine Ahnung, wirklich. Aber Sie, was wissen Sie?»
«Oh», sagte der andere ganz ruhig, «ich habe nur noch wenig zu lernen.»
Der Arzt blieb stehen, und Tarrous Fuß hinter ihm glitt auf einer Stufe aus. Tarrou fing sich, indem er nach Rieux’ Schulter griff.
«Glauben Sie, alles vom Leben zu kennen?», fragte dieser.
Im Dunkeln kam die Antwort mit derselben ruhigen Stimme:
«Ja.»
Als sie auf die Straße traten, wurde ihnen klar, dass es ziemlich spät war, elf Uhr vielleicht. Die Stadt war stumm, nur von Rascheln erfüllt. Weit weg erklang das Bimmeln eines Krankenwagens. Sie stiegen ins Auto, und Rieux setzte den Motor in Gang.
«Morgen müssen Sie ins Krankenhaus kommen, um sich impfen zu lassen. Aber noch ein letztes Wort dazu, bevor Sie sich auf diese Geschichte einlassen,
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