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Die Pest (German Edition)

Die Pest (German Edition)

Titel: Die Pest (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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Glück, dass Sie da sind. Aber da sehen Sie, wie schwierig es ist.»
    «Was halten Sie von ‹prächtig›?», sagte Tarrou.
    Grand sah ihn an. Er überlegte.
    «Ja», sagte er, «ja!»
    Und ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
    Einige Zeit darauf gestand er, das Wort ‹blühend› störe ihn. Da er nie etwas außer Oran und Montélimar gekannt hatte, bat er seine Freunde manchmal um Angaben, wie die Alleen im Bois denn blühten. Eigentlich hatten sie bei Rieux oder Tarrou nie diesen Eindruck gemacht, aber die Überzeugung des Angestellten brachte sie ins Wanken. Er wunderte sich über ihre Unsicherheit. «Nur Künstler verstehen zu sehen.» Aber einmal fand ihn der Arzt in großer Aufregung vor. Er hätte ‹blühend› durch ‹voller Blumen› ersetzt. Er rieb sich die Hände. «Endlich sieht man sie, riecht man sie. Hut ab, meine Herren!» Triumphierend las er den Satz vor: «An einem schönen Maimorgen ritt eine schlanke Amazone auf einer prächtigen Fuchsstute durch die Alleen voller Blumen des Bois de Boulogne.» Aber laut gelesen klangen die beiden Genitive am Ende des Satzes unschön, und Grand stotterte ein bisschen. Er setzte sich niedergeschlagen. Dann bat er den Arzt, gehen zu dürfen. Er müsse ein wenig nachdenken.
    Um diese Zeit zeigte er, wie man später erfuhr, im Büro Anzeichen von Zerstreutheit, die zu einem Zeitpunkt, da das Rathaus mit verringertem Personal erdrückende Pflichten erfüllen musste, für bedauerlich gehalten wurden. Sein Dienst litt darunter, und der Bürovorsteher machte ihm strenge Vorhaltungen und erinnerte ihn daran, dass er dafür bezahlt werde, eine Arbeit zu verrichten, die er eben nicht verrichte. «Anscheinend machen Sie neben Ihrer Arbeit freiwilligen Dienst bei den Sanitätstrupps», hatte der Bürovorsteher gesagt. «Das geht mich nichts an. Was mich aber angeht, ist Ihre Arbeit. Und die beste Art, sich in dieser schrecklichen Lage nützlich zu machen, ist, Ihre Arbeit ordentlich zu verrichten. Sonst nützt das Übrige auch nichts.»
    «Er hat recht», sagte Grand zu Rieux.
    «Ja, er hat recht», bestätigte der Arzt.
    «Aber ich bin zerstreut und weiß nicht, wie ich mit dem Schluss meines Satzes weiterkommen soll.»
    Er hatte daran gedacht, ‹de Boulogne› wegzulassen, da er meinte, jeder würde es verstehen. Aber dann schien der Satz das mit ‹Blumen› zu verbinden, was sich eigentlich auf ‹Alleen› bezog. Er hatte auch die Möglichkeit erwogen zu schreiben: «Die Alleen des Bois voller Blumen.» Aber die Stellung von ‹Bois› zwischen einem Substantiv und dessen adjektivischer Bestimmung, die er willkürlich auseinanderriss, war ihm ein Dorn im Auge. An manchen Abenden sah er wirklich noch müder aus als Rieux.
    Ja, er war müde von diesem Suchen, das ihn völlig in Anspruch nahm, aber dennoch machte er weiter die Additionen und Statistiken, die die Sanitätstrupps brauchten. Geduldig brachte er allabendlich die Karteikarten in Ordnung, legte Kurven an und bot alle Kräfte auf, langsam so genaue Register wie möglich vorzulegen. Ziemlich häufig suchte er Rieux in einem der Krankenhäuser auf und bat ihn um einen Tisch in irgendeinem Büro oder Krankenzimmer. Dort ließ er sich mit seinen Papieren nieder, genauso wie er sich an seinem Tisch im Rathaus niederließ, und schwenkte in der von Desinfektionsmitteln und der Krankheit als solcher dicken Luft seine Blätter, um die Tinte trocknen zu lassen. Er versuchte dann redlich, nicht mehr an seine Amazone zu denken und nur das zu tun, was nötig war.
    Ja, wenn es stimmt, dass den Menschen daran liegt, sich Beispiele und Vorbilder zu nehmen, die sie Helden nennen, und wenn es in dieser Geschichte unbedingt einen geben muss, dann schlägt der Erzähler gerade diesen unbedeutenden und unauffälligen Helden vor, für den nur ein wenig Herzensgüte und ein scheinbar lächerliches Ideal sprachen. Das wird der Wahrheit geben, was ihr gebührt, der Addition von zwei und zwei ihr Ergebnis vier und dem Heldenmut den zweiten Rang, der ihm gleich nach und niemals vor der noblen Forderung nach Glück zukommen muss. Das wird auch dieser Chronik ihren Charakter eines mit guten Gefühlen geschriebenen Berichts verleihen, das heißt mit Gefühlen, die weder offenkundig böse sind noch überschwänglich in der gemeinen Art eines Schauspiels.
    Das war zumindest Doktor Rieux’ Meinung, wenn er die Appelle oder Zusprüche in den Zeitungen las oder im Radio hörte, die die Außenwelt der Peststadt zukommen ließ.

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