Die Pest (German Edition)
war dürftig.»
«Man hat es über die Behörden getan, ohne wirklich daran zu glauben. Was denen fehlt ist Phantasie. Sie sind den Seuchen nie gewachsen. Und mit den Heilmitteln, die sie sich ausdenken, wird man kaum mit einem Schnupfen fertig. Wenn wir sie machen lassen, kommen sie um und wir mit ihnen.»
«Das ist wahrscheinlich», sagte Rieux. «Ich muss jedoch sagen, dass sie für das, was ich die groben Arbeiten nennen möchte, auch an die Gefangenen gedacht haben.»
«Mir wäre lieber, wenn es freie Menschen wären.»
«Mir auch. Aber warum eigentlich?»
«Ich verabscheue Todesurteile.»
Rieux sah Tarrou an.
«Also?», sagte er.
«Also, ich habe einen Plan, freiwillige Sanitätsgruppen zu organisieren. Geben Sie mir die Vollmacht, mich darum zu kümmern, und lassen wir die Behörden beiseite. Sie sind ohnehin überlastet. Ich habe fast überall Freunde, und sie werden den ersten Kern bilden. Und natürlich werde ich mitmachen.»
«Sie ahnen sicher, dass ich mit Freuden annehme», sagte Rieux. «Man hat Hilfe nötig, vor allem in diesem Beruf. Ich übernehme es, die Idee in der Präfektur durchzusetzen. Außerdem haben sie gar keine Wahl. Aber …»
Rieux dachte nach.
«Aber diese Arbeit kann tödlich sein, das wissen Sie ja. Jedenfalls muss ich Sie davor warnen. Haben Sie es sich gut überlegt?»
Tarrou sah ihn mit seinen grauen Augen an.
«Was halten Sie von Paneloux’ Predigt, Herr Doktor?»
Die Frage war unbefangen gestellt, und Rieux beantwortete sie unbefangen.
«Ich habe zu lange in Krankenhäusern gelebt, um die Vorstellung einer Kollektivstrafe zu mögen. Aber Sie wissen ja, die Christen reden manchmal so, ohne es je wirklich zu denken. Sie sind besser, als sie scheinen.»
«Sie glauben aber doch wie Paneloux, dass die Pest ihr Gutes hat, dass sie die Augen öffnet, dass sie zum Denken zwingt!»
Der Arzt schüttelte ungeduldig den Kopf.
«Wie alle Krankheiten dieser Welt. Aber was für die Übel dieser Welt gilt, gilt auch für die Pest. Das kann einigen dazu verhelfen, zu wachsen. Wenn man jedoch das Elend und den Schmerz sieht, den die Pest bringt, muss man verrückt, blind oder feige sein, um sich mit ihr abzufinden.»
Rieux hatte kaum lauter gesprochen. Aber Tarrou machte eine Handbewegung, als wolle er ihn beruhigen. Er lächelte.
«Ja», sagte Rieux achselzuckend. «Aber Sie haben mir nicht geantwortet. Haben Sie es sich überlegt?»
Tarrou setzte sich in seinem Sessel zurecht und bewegte den Kopf näher ans Licht.
«Glauben Sie an Gott, Herr Doktor?»
Wieder war die Frage unbefangen gestellt. Aber diesmal zögerte Rieux.
«Nein, aber was besagt das? Ich tappe im Dunkeln und versuche, Klarheit zu finden. Ich habe schon lange aufgehört, das originell zu finden.»
«Unterscheidet Sie das nicht von Paneloux?»
«Ich glaube nicht. Paneloux ist ein Mann der Bücher. Er hat nicht genug Menschen sterben sehen, und deshalb spricht er im Namen einer Wahrheit. Aber der kleinste Landpriester, der seine Gemeinden verwaltet und das Atmen eines Sterbenden gehört hat, denkt wie ich. Er würde dem Elend abhelfen, bevor er seine Vorzüge darlegen wollte.»
Rieux stand auf, sein Gesicht war jetzt im Schatten.
«Lassen wir das», sagte er, «Sie wollen ja doch nicht antworten.»
Tarrou lächelte, ohne sich in seinem Sessel zu rühren.
«Kann ich mit einer Frage antworten?»
Nun lächelte auch der Arzt.
«Sie lieben das Geheimnis», sagte er. «Also bitte.»
«Gut», sagte Tarrou. «Warum zeigen Sie selbst so viel Aufopferung, wenn Sie nicht an Gott glauben? Ihre Antwort wird mir vielleicht helfen, meinerseits zu antworten.»
Ohne aus dem Schatten herauszutreten sagte der Arzt, er habe schon geantwortet: Wenn er an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen und würde diese Sorge ihm überlassen. Aber niemand auf der Welt – nein, nicht einmal Paneloux, der glaube, daran zu glauben – glaube an einen solchen Gott, da niemand sich völlig hingebe, und zumindest darin glaube er, Rieux, auf dem Weg der Wahrheit zu sein, indem er gegen die Schöpfung, so wie sie war, ankämpfe.
«Ach, das ist also die Vorstellung, die Sie sich von Ihrem Beruf machen?»
«Ungefähr», sagte der Arzt und trat wieder ins Licht.
Tarrou pfiff leise, und der Arzt sah ihn an.
«Ja», sagte er, «Sie denken, dass dazu Stolz nötig ist. Aber ich habe nicht mehr als den nötigen Stolz, glauben Sie mir. Ich weiß nicht, was mich erwartet und was nach all dem hier kommen
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