Die Pest (German Edition)
Umfangs gezwungen hat, ist eine weitere Zeitung entstanden: Le Courrier de l’Épidémie , die sich die Aufgabe stellt, ‹unsere Mitbürger mit gewissenhafter Objektivität über das Fortschreiten oder den Rückgang der Krankheit zu informieren, ihnen die maßgeblichsten Ansichten über den Fortgang der Epidemie zu bieten; in ihren Spalten all jene, bekannt oder unbekannt, zu unterstützen, die bereit sind, gegen die Geißel zu kämpfen; die Moral der Bevölkerung zu stärken, die Anweisungen der Behörden bekanntzumachen und mit einem Wort all jene, die guten Willens sind, zu sammeln, um wirksam gegen das Unheil zu kämpfen, das uns heimsucht.› In Wirklichkeit hat sich diese Zeitung sehr schnell damit begnügt, Anzeigen neuer unfehlbarer Pestverhütungsmittel zu veröffentlichen.
Gegen sechs Uhr morgens werden dann all diese Zeitungen in den Schlangen verkauft, die sich mehr als eine Stunde vor Öffnung der Geschäfte an deren Türen bilden, dann in den Straßenbahnen, die überfüllt aus den Vorstädten kommen. Die Straßenbahnen sind das einzige Verkehrsmittel geworden und kommen mit ihren brechend vollen Trittbrettern und Plattformen mühsam voran. Seltsamerweise drehen sich alle Fahrgäste nach Möglichkeit den Rücken zu, um eine gegenseitige Ansteckung zu vermeiden. An den Haltestellen lädt die Straßenbahn eine Fracht Männer und Frauen ab, die machen, dass sie wegkommen, um allein zu sein. Oft entbrennen nur aufgrund der chronisch werdenden schlechten Laune Auseinandersetzungen.
Nachdem die ersten Straßenbahnen gefahren sind, erwacht die Stadt allmählich, die ersten Brasserien öffnen ihre Türen zu Theken, über denen Schilder hängen: ‹Kein Kaffee mehr›, ‹Zucker mitbringen› usw. Dann machen die Geschäfte auf, die Straßen beleben sich. Gleichzeitig wird das Licht heller, und die Hitze macht den Julihimmel allmählich bleigrau. Um diese Zeit wagen sich die Nichtstuer auf die Boulevards. Die meisten scheinen es sich angelegen sein zu lassen, die Pest durch die Zurschaustellung ihres Luxus zu bannen. Täglich gegen elf Uhr findet auf den Hauptverkehrsadern eine Parade junger Männer und Frauen statt, bei der man diese Lebenssucht spüren kann, die in Zeiten großen Unheils gedeiht. Wenn die Epidemie sich ausbreitet, wird auch die Moral lockerer werden. Wir werden die Mailänder Saturnalien am Rande der Gräber wiedererleben.
Um zwölf füllen sich die Restaurants im Nu. Eher schnell bilden sich vor ihrer Tür Grüppchen, die keinen Platz gefunden haben. Der Himmel büßt durch die übermäßige Hitze nach und nach seine Helligkeit ein. Im Schatten der großen Markisen, am Rand der vor Sonne prasselnden Straße warten die Essensanwärter darauf, dass sie drankommen. Die Restaurants werden überrannt, weil sie für viele das Versorgungsproblem erleichtern. Aber die Angst vor Ansteckung wird nicht davon berührt. Die Gäste verlieren viele Minuten damit, geduldig ihr Besteck abzuputzen. Es ist noch nicht lange her, dass manche Restaurants bekanntgaben: ‹Hier wird das Besteck abgekocht.› Aber nach und nach haben sie auf jede Werbung verzichtet, da die Gäste ja zum Kommen gezwungen waren. Der Gast gibt sein Geld übrigens gern aus. Die erlesenen oder als solche geltenden Weine, die teuersten Extras sind der Auftakt zu einer zügellosen Jagd. Anscheinend ist es in einem Restaurant auch zu panischen Szenen gekommen, weil ein von Unwohlsein befallener Gast blass geworden, taumelnd aufgestanden und sehr schnell hinausgegangen war.
Gegen zwei Uhr leert sich die Stadt allmählich, und das ist der Zeitpunkt, wenn sich die Stille, der Staub, die Sonne und die Pest auf der Straße begegnen. An den großen grauen Häusern fließt unablässig die Hitze entlang. Es sind lange Stunden des Gefangenseins, und sie enden in lodernden Abenden, die über die dichtbevölkerte, plappernde Stadt hereinbrechen. An den ersten Tagen der Hitze waren die Abende dann und wann verödet, ohne dass man wusste, warum. Aber jetzt bringt die erste Abkühlung eine Entspannung, wenn nicht gar eine Hoffnung. Alle gehen auf die Straße, berauschen sich am Reden, streiten oder begehren sich, und unter dem roten Julihimmel treibt die mit Paaren und Schreien erfüllte Stadt der keuchenden Nacht entgegen. Umsonst geht jeden Abend auf den Boulevards ein schwärmerischer Greis mit Filzhut und Künstlerschleife durch die Menschenmenge und wiederholt unablässig: «Gott ist groß, kommt zu ihm», alle rennen im Gegenteil zu etwas hin,
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